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Wiedereröffnung der Theater: Analog, digital oder beides?

Posted in Hinter den Kulissen, and Interviews

Die Theater öffnen wieder. Aber wie? Wird es von nun an wieder reines analoges Theater ohne digitales Angebot geben? Laufen analog und digital parallel? Und natürlich: Wird die Audiodeskription mitgedacht?

Im vergangenen Jahr (2020) äußerte sich das blinde und sehbehinderte Publikum eher negativ zu digitalem Theater. Schließlich lebt der Theaterzauber größtenteils von dem Live-Moment vor Ort. Teilweise wurden diese Befürchtungen in meinen Interviews mit den Autor*innen der Audiodeskription bestätigt. So berichtete Anke Nicolai im Interview, dass sich die Audiodeskriptor*innen über die Auftragslage Sorgen machten. Und auch die Stimmen der anderen Autor*innen des Berliner Spielplan Audiodeskription waren gemischt:

Anke Nicolai (April 2020): „Vielleicht ist das dann doch die Variante, dass vorproduzierte Produktionen (mit Audiodeskription) beauftragt werden und über Streaming oder über eine Internetseite zur Verfügung gestellt werden. Das hat natürlich einen Nachhaltigkeitseffekt. Es könnte auch längerfristig dort zur Verfügung stehen und somit viele Menschen erreichen – viele blinde Menschen, die an ganz unterschiedlichen Orten leben.“ (aus dem Artikel „Wir sind verstummt“: Interview mit Audiodeskriptorin Anke Nicolai)

Felix Koch (August 2020):„Generell bin ich auf jeden Fall für den Live-Moment. Als Musiker, Konzerte zu spielen, live, mit anderen Personen in einem Raum zu sein, das Gefühl und die Energie miteinander zu teilen ist etwas Unmittelbares. Ich glaube, das ist ein Erfahrungsprozess, sich gemeinsam in einem Raum zu befinden, gemeinsam etwas zu erleben. Da können solche Streaming-Angebote nur ein Ersatz sein.“ (aus dem Artikel Der Ton macht die Musik – auch bei Audiodeskription)

Justus Rothländer (November 2020): „Nichts ersetzt im Theater die Begegnung. Das Theater fußt darauf, dass alles, sowohl das Publikum als auch diejenigen, die auf der Bühne stehen und performen, in einem Raum stattfindet. […] Für mich ist es gerade eher so, dass das Theater auf digitale Mittel aufmerksam wird und sich diese digitalen Mittel anders zu eigen machen kann: Dass es eine Qualität gibt, diese Mittel so einzusetzen, dass sie für eine Überraschung sorgen können, dass sie eine andere Art von Begegnung stiften können, als wir es bis jetzt auch mit diesen Mitteln gewohnt sind. Das ist eine Qualität des Theaters, dass es eine ständige und auch sehr schnelle und neugierige und wache Suche geben kann, diese Mittel anders einzusetzen und dann auch kritisch zu befragen.“ (aus dem Artikel Inklusion am Theater an der Parkaue im Lockdown: Interview Dramaturg Justus Rothlaender Teil 1)

Charlotte Miggel (November 2020): „Im Theater haben wir normalerweise die Live-Termine vor Ort. Insofern merke ich das schon, dass es sehr viel mehr „Zuhauserumsitzerei“ ist und eben Arbeit.“ (aus dem Artikel „Wir versuchen, mit Sprache ein Bild in euren Köpfen entstehen zu lassen.“)

Jutta Polic (Januar 2021): „So konnte ich die AD liegen lassen und sie nach einiger Zeit noch einmal anschauen. Man findet immer Stellen, die verbessert werden können. Das habe ich sehr genossen. Es sollte immer so viel Zeit [für die Erstellung einer Audiodeskription] geben!“ (aus dem Artikel Wenn es erstmal im Kopf ist, ist alles andere machbar)

Kurze Schockstarre und weiter im Programm

In jedem Fall sind die Theater nach einer kurzen Schockstarre nicht untätig geblieben. Von „Mutter Courage“ im Berliner Ensemble über „Pythonparfum und Pralinen aus Pirgendwo“ im Theater an der Parkaue bis hin zu „Woyzeck Interrupted“ im Deutschen Theater und „Der Zwerg“ in der Deutschen Oper sind einige Stücke mit Audiodeskription erschienen. Besonders gut kamen aber die Stücke des Theatertreffens 2021 bei unseren Theaterclub-Teilnehmer*innen an:

Teilnehmerin 1: „Beim Theatertreffen habe ich das Automatenbüffet gesehen… Es gabs nochmal auf 3sat. Da habe ich es nochmal gesehen. Wenn es etwas größer ist, auch wenn es ohne Audiodeskription ist, ist es noch einmal eine gute Ergänzung. Ich laufe zweigleisig um alles intensiv mitzubekommen.“

Teilnehmerin 2: „Ich wollte ein anderes Stück als meinen absoluten Favoriten ins Gespräch bringen, auch vom Theatertreffen, und zwar „Scores that shaped our friendship“. Es hat mich sehr berührt und bewegt, auch von der Audiodeskription her. Und ich fand diese Kombination aus Performance, Tanz, Theater, Musik sehr gelungen und die drei DarstellerInnen, TänzerInnen, MusikerInnen in ihrem Zusammenspiel sehr schön wiedergegeben in der Audiodeskription.“

Leider entstanden für andere Teilnehmer*innen durch das digitale Format auch Barrieren:

Teilnehmerin 3: „Bei Woyzeck bin ich überhaupt nicht vorangekommen und dann habe ich es aufgegeben…“

Was sich das blinde und sehbehinderte Publikum wünscht

Analog oder digital oder beides – am Ende kommt es darauf an, was sich das blinde und sehbehinderte Publikum wünscht. Diese Frage wurde auch an die Teilnehmer*innen des Theaterclubs im Juni gestellt.

Teilnehmerin 4: „Wenn man direkt dabei ist, live im Saal oder draußen, dann kriegt man so viel extra an Impulsen nochmal, das richtig zum Theater gehört. Die Höhen und Tiefen, wie die Spieler sich und uns als Publikum nähern, fällt ja im Zoom weg. Es ist eine Überbrückungsmöglichkeit für mich und natürlich im Livestream. Die ganze Welt kann reagieren. Andere Länder können sich dazu schalten. Das ist ein anderer Austausch, aber für die die sehen ist es auch nochmal etwas anderes, als wenn ich nur über die Ohren erfahre. Ich würde plädieren, dass beides intakt bleibt.“

Teilnehmerin 5: „Ich finde alle Varianten schön, bis auf normale Theaterstücke, die normal abgefilmt werden und dann gezeigt werden. Das ist natürlich viel schöner, wenn man richtig im Theater sitzt.“

Welche Stücke mit Audiodeskription in der Spielzeit 2021?

Die Theater bemühen sich, in dieser Spielzeit wieder analoge Stücke aufzuführen. Wie es mit der Audiodeskription aussieht, stand für Imke Baumann aber im Juni noch nicht fest: „Die Theater haben natürlich ein Problem. Sie haben ganz viel vorbereitet und müssen sich jetzt entscheiden: Was nehmen sie wieder auf, oder was kommt überhaupt noch auf die Bühne, obwohl es vorbereitet war? Da hängen wir natürlich hintendran. Was noch vorbereitet ist, und wovon ich eigentlich davon ausgehe, dass wir das auch zeigen werden, ist die „Zauberflöte“ in der Deutschen Oper. Dann haben wir im BE [Berliner Ensemble] vorbereitet gehabt: „Die Gespenster“ -auch eine wirklich schöne Inszenierung aus der Corona-Frühphase. Da sehe ich die Chance, dass das wiederaufgenommen wird. Nach wie vor sollte der „Don Quijote“ nochmal gespielt werden. Dann weiß ich bereits, dass „Woyzeck interrupted“ auf jeden Fall aufgenommen wird, wahrscheinlich im September. Da gibt es schon die Audiodeskription für den Online-Event und jetzt wird es eine Einrichtung live geben. Dann ist angefragt, aber hier habe ich noch keine Rückmeldung: Die neue Show im Friedrichstadt-Palast, „Arise“. Der Friedrichstadtpalast hat eine Komplettpause gemacht. Sie haben die Zeit genutzt, um einen Umbau zu bewerkstelligen, sehr clever. Und andererseits haben sie aber das Neue schon vorbereitet. Aber auf jeden Fall bleiben wir dran, denn eine zweite Show wollten wir auf jeden Fall noch realisieren. Im BE wird im Herbst die Dreigroschenoper premieren. Das haben wir uns schon auf den Plan gehoben, das wird in jedem Fall vorbereitet. Dann gibt es wahrscheinlich im Theater in der Parkaue das „Pythonparfüm“ auch nochmal in einer Live-Einrichtung.“

Falls also nichts Unerwartetes auftritt, wird es in Berlin ab September wieder Live-Theaterstücke mit Audiodeskription geben. Ob und in welchem Maße digitale Angebote zur Verfügung gestellt werden, steht noch in den Sternen. Ich wäre auch persönlich dafür, denn zum einen sind analoge Theaterstücke in der Zahl der Zuschauer*innen begrenzt. Das gilt in Coronazeiten mit Abstandsregelungen mehr denn je. Zum anderen gibt es unter den blinden und sehbehinderten Zuschauer*innen einige, die sich, trotz Corona-Maßnahmen, noch nicht ins Theater trauen würden. Behinderungsbedingt können sie nicht so leicht Abstand wahren wie sehende Zuschauer*innen.

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