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A Crash Course in Cloudspotting – Erholung im Ohr

Posted in Theaterrezension

Wer von euch findet es erholsam, sich auf eine Parkbank, in eine öffentliche Toilette oder unter einen Busch im Regen zu legen? Menschen mit chronischen Schmerzen sind dazu gezwungen, sich auszuruhen, wenn ihr Körper es verlangt. Das bedeutet, dass sie sich die benötigte Erholung oft im öffentlichen Raum suchen müssen. Ein ungewöhnlicher Anblick für andere Menschen, und Reaktionen variieren auch von Verblüffung bis Genervtheit: „Hier können Sie sich aber nicht hinlegen!“ Mit diesem Thema beschäftigt sich die Online-Audio-Performance „A Crash Course in Cloudspotting“ von Raquel Meseguer Zafe in den Sophiensälen.

Eine Gelegenheit zum Hinlegen

An stressigen Tagen will man sich oft einfach nur hinlegen. Der 30. Juli ist genau so ein Tag: Zuerst wird mein Esstisch, auf den ich schon zwei Wochen gewartet habe, nicht geliefert. Dann stelle ich fest, dass ich meinen Blogpost, „Hamlet – eine Performance mit Audiodeskription“, am falschen Tag geplant habe. Als dann noch das Booklet für „A crash Course in cloudspotting“ an die falsche Adresse gesendet wird, kann ich ein Stündchen in der Horizontalen gut gebrauchen.

Fang an, dich auszuruhen

Bevor ich es mir aber auf meiner Yogamatte auf dem Balkon gemütlich machen kann, muss ich die Performance auf einer mir völlig unbekannten Seite finden. Keine Neuheit in Zeiten des Online-Theaters, aber ich bin vorsichtshalber etwas früher da. Früh genug, um mir die Audio-Version des Booklets anzuhören. Raquel beschreibt das Booklet sehr detailliert. Ich verstehe, dass es aus Karton gebastelt ist und darauf Hexagone platziert sind, die sich offenbar wie Sand anfühlen. Generell soll sich das Booklet wie eine Blume oder Geschenk öffnen. Ich finde es in diesem Moment nur schade, dass ich das Booklet nicht in der Hand habe. Die PDF-Version ist für meinen Screenreader leider nicht lesbar.
Das Einloggen in die Performance funktioniert unkompliziert. Ich muss nur unter der Überschrift „A crash Course in cloudspotting“ meinen Ticketcode ins Textfeld eingeben et voila! Ich werde aufgefordert zu warten, bis die Performance anfängt. Ein paar Minuten vor 16:00 Uhr ändert sich die Seite. Jetzt soll ich den Schalter „Start resting“ aktivieren, um die Performance zu starten. Ich finde ihn auch, aber erstmal passiert gar nichts, als ich ihn mit der Eingabetaste aktivieren will. Darüber finde ich allerdings ein Element, das als Bild markiert ist und mir von meiner Sprachausgabe ungefähr so wiedergegeben wird: „image/svg+xml\;base64\,PHN2ZyB4bWxucz0iaHR0cDovL3d3dy53My5vcmcvMjAwMC9zdmciIHdpZHRoPSI1OS42MDIiIGhlaWdodD0iMjkuNzUyIiB2aWV3Qm94PSIwIDAgNTkuNjAyIDI5Ljc1MiI+CiAgPGcgaWQ9Ikdyb3VwXzciIGRhdGEtbmFtZT0iR3JvdXAgNyIgdHJhbnNmb3JtPSJ0cmFuc2xhdGUoLTE3Ni41IC01MTYuNjI0KSI…“ Und so weiter. Hier auf Enter zu drücken, funktioniert. Es erscheint ein Schalter „Stop resting“ und Raquels Stimme ertönt.

Warum müssen sich Menschen im öffentlichen Raum verstecken?

Raquels Stimme ertönt aber nicht alleine. Je mehr ZuhörerInnen dazukommen, desto mehr musikalische Muster werden ausgelöst. Ich erkenne mehrere Streichinstrumente wie Celli und Geigen. Wir sind alle da, um uns auszuruhen. In der nächsten halben Stunde höre ich Geschichten von Menschen mit chronischen Schmerzen. Sie berichten davon, dass sie durch ihre Erkrankung dazu gezwungen sind, sich an ungewöhnlichen Orten zu erholen. Da ist eine Frau, die sich in der Pause zwischen einer Vorlesung vor den Augen ihrer Dozentin auf den Boden legen muss und von ihr wahrscheinlich für betrunken gehalten wird. Ein Mann berichtet davon, dass er sich im Theater hinlegen muss und ein Mitarbeiter ein Warnband um den Umriss seines Körpers spannt. Eine andere Frau versteckt sich und ihre Schmerzen während ihrer Arbeitszeit auf dem Boden einer Toilettenkabine neben Klopapierresten und undefinierbaren Pfützen. Am meisten berührt mich die Geschichte einer Frau, die eigentlich nur shoppen wollte, bis ihre Beine nachgeben und sie auf dem Bürgersteig liegenbleibt. Es beginnt zu regnen. Sie rollt sich unter einen Busch und betet, dass die vorbeikommenden Jogger sie nicht sehen. Über dreißig solcher Geschichten hat Raquel bereits gesammelt. Heute höre ich nur fünf oder sechs davon. Es ist keine durchweg entspannende Performance, denn die Geschichten machen mir klar, dass es viele verschiedene Bedürfnisse außerhalb der Welt der Seheinschränkungen gibt – Bedürfnisse, über die ich mir, trotz meiner Sensibilisierung für die Themen Behinderung und Inklusion noch keine Gedanken gemacht habe. Wenn der öffentliche Raum allen gehört, warum müssen sich dann so viele Menschen darin verstecken?

Manchmal muss man an Erholung erinnert werden

Erholung steht in meinem Alltag nicht an erster Stelle. Zuerst kommt die Arbeit, dann die Hausarbeit und wenn es danach noch nicht Zeit zum Schlafen ist, könnte man sich ja etwas ausruhen. Ich genieße es an diesem Tag, eine reine Audio-Performance zu hören. Ich genieße es auch, mich mitten am Tag hinzulegen und gemeinsam mit den anderen TeilnehmerInnen auszuruhen. Am Schluss der Performance klingen die Streichinstrumente aus, als immer mehr ZuhörerInnen den Online-Raum verlassen. Ich schließe noch einmal die Augen, nehme einen tiefen Atemzug und bin dankbar für die Erinnerung daran, dass Erholung manchmal an erster Stelle steht.

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