Audiodeskription ist eine Art Übersetzung. So zumindest beschreibt es die Audiodeskriptorin Charlotte Miggel. Als Lektorin und Übersetzerin ist es ihr besonders wichtig, Bilder so in Sprache zu übersetzen, dass ein blindes und sehbehindertes Publikum einem Theaterstück gut folgen kann. Seit 2019 verfasst sie Audiodeskriptionen unter anderem für den „Berliner Spielplan Audiodeskription“ und war z.B. in Stücken wie „Don Quijote“ zu hören.
Lavinia: Was war denn beruflich gesehen deine größte Herausforderung seit dem Lockdown?
Charlotte: Ich habe den ganzen November nur Audiodeskription für Filme gemacht. Theaterprojekte sind zwar geplant, aber da stecken sie noch in den Vorbereitungen, sodass es noch keine richtige Textarbeit für mich gab.
Im Theater haben wir normalerweise die Live-Termine vor Ort. Insofern merke ich das schon, dass es sehr viel mehr „Zuhauserumsitzerei“ ist und eben Arbeit am Laptop.
Lavinia: Wie bist du zur Audiodeskription gekommen?
Charlotte: Ich habe meinen Bachelor in Leipzig gemacht: Übersetzen und dolmetschen. Parallel dazu habe ich beim Studentenradio, im Radiofeuilleton, gearbeitet. 2014 fing es im Schauspiel Leipzig mit Audiodeskription an. Ich hatte mir vorgenommen, eine Reportage über diese inklusive Methode zu machen. 2015 bin ich nach Berlin zurückgekommen, habe meinen Master der Angewandten Literaturwissenschaft angefangen und nebenher im Café der Schaubühne gearbeitet. Beim Durchscrollen alter Arbeitsproben bin ich wieder auf den Beitrag zu Audiodeskription gestoßen und habe mich gefragt, wann diese Vorstellungen mit Live-Audiodeskription eigentlich an der Schaubühne stattfinden
Ich war total verwundert: Das kann doch nicht sein, dass es im Schauspiel Leipzig etwas gibt, was die Schaubühne Berlin nicht anbieten kann! Ich habe mit dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband gesprochen. Sie meinten: „Es gibt gar kein Haus in Berlin, dass das macht.“ Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, meine Masterarbeit zu dem Thema zu schreiben. Ich habe eine Live- Audiodeskription für die Schaubühne Berlin verfasst, leider zu einem Stück (Bella Figura), das dann direkt abgesetzt wurde. Als es mit dem „Berliner Spielplan Audiodeskription“ losging, kam Imke Baumann auf mich zu und meinte: „Sie haben doch diese Arbeit geschrieben. Wären sie nicht interessiert, Teil des AutorInnenteams zu werden? So fing das an.
Lavinia: Ich habe auf deinem Linkedin-Profil gelesen, dass du Übersetzen und Dolmetschen studiert hast. Deswegen wollte ich dich fragen, was die Parallelen sind, zwischen Übersetzung, Dolmetschen und Audiodeskription?
Charlotte: Das war ein relativ großer Teil meiner Masterarbeit. Man versucht etwas, was man sieht, so in Sprache zu übersetzen, dass genau dieses Bild in deinem Kopf entsteht. Es ist in jedem Fall eine Form von Übersetzung. Wir versuchen, mit Sprache ein Bild in euren Köpfen entstehen zu lassen, das möglichst passgenau dem entspricht, was auf der Bühne passiert.
Lavinia: Wann bist du schon mal mit der Audiodeskription an deine Grenzen gestoßen?
Charlotte: In meinen eigenen Texten finde ich es immer wieder schwierig, die Balance zu halten zwischen: Wann fange ich an, zu interpretieren und wann beschreibe ich noch das, was ich sehe?
Es gab das Stück „Drei Mal leben“ am Berliner Ensemble. Das ist leider coronabedingt nie zur Aufführung gekommen. Die Bühne besteht aus drei Drehbühnen, die sich in unterschiedliche Richtungen drehen können, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Auf jeder Drehbühne ist eine große Stehlampe mit hellem Schirm. Wenn das Licht ausgeht, sieht man nur noch diese drei Lampenschirme, die sich durch die Dunkelheit drehen. Ich sehe Planeten und Sterne, die sich durchs All bewegen, aber am Ende sind es immer noch drei Lampenschirme auf drei kreisenden Scheiben. Wann fange ich an, zu viel von meiner Interpretation, in die Audiodeskription einfließen zu lassen? Ist es legitim zu sagen: Die drei Lampenschirme bewegen sich wie astrale Objekte durchs All? Ich will versuchen, sachlich zu bleiben und euch nicht das aufzuzwingen, was ich in diesem Szenario sehe.
Lavinia: Wie entsteht die Audiodeskription?
Charlotte: Wir haben diese erste Schleife, wo wir erstmal sichten. Am besten schon mit der blinden Co-Autorin. Dann gehen wir ins Theater und tauschen uns danach darüber aus. Barbara Fickert und ich, wir sind ein relativ gut eingespieltes Team. Schon während der Vorstellung schubst sie mich leicht an. Dann weiß ich: Jetzt hat sie gar nicht verstanden, worum es geht. Das heißt, ich merke mir diese Szene. Ich bekomme dann die Video-Aufzeichnung und schreibe dann den Text, der haargenau in die Lücken der Video-Aufzeichnung passt. Im besten Fall habe ich die Live-Sichtung irgendwo im Hinterkopf und weiß: „Okay, da war es knapper, oder da war die Lücke mal ein bisschen größer.“ Dann gehe ich es mit der blinden Co-Autorin durch. Anhand der Video-Aufzeichnungen lese ich es ihr ein. Da entsteht der Text nochmal neu. Dann gibt es noch die Redaktion. Das ist eine zweite sehende Person, die den Text mit Videomaterial durchgeht und auf grobe Fehler achtet. In der Generalprobe sehe ich das Stück zum zweiten Mal live und kann dann noch relativ viel am Text ändern.
Lavinia: Das klingt für mich wie zwei Stunden lang totaler Fokus. Hast du einen Trick, wie du immer am Ball bleibst?
Charlotte: In jeder Audiodeskription kann man sich ein oder zwei Minuten zurücklehnen und mal kurz durchatmen. Dann geht das schon wieder. Wenn man mental fit sein muss und es auf diese ein oder zwei Stunden ankommt, dann denkt man nicht richtig darüber nach. Es kommt mir hinterher gar nicht so vor, als hätte ich zweieinhalb Stunden gesprochen.
Lavinia: Wie verhalten sich die Theater im Moment, in Bezug auf Audiodeskription. Spielt es noch eine Rolle?
Charlotte: Ich habe das Gefühl, dass Audiodeskription komplett von der Bildfläche verschwunden ist. Es ist sowieso zu bemängeln, dass Inklusion immer ein Randthema ist. In Corona-Zeiten, habe ich das Gefühl, dass alle die Hände hochschmeißen und sagen: „Jetzt können wir nicht auch noch an Inklusion denken! Wir müssen erstmal an dieses und jenes denken!“
Seit dem Stück „Haus Nr. 69“ (Schaubude Berlin) im September gab es gar kein Angebot für blinde und sehbehinderte Menschen in Berlin. Ich hoffe, dass es gelingt, langfristig Weichen zu stellen und die Theater dazu zu bewegen, Geld in die Hand zu nehmen und zu sagen: „Das ist etwas, was von uns kommen muss und was wir auch zu leisten haben. Es ist ein gesellschaftlicher Auftrag.“
Damit ihr nicht völlig auf dem Trockenen sitzt, zeigen die Sophiensäle ab dem 11.12.2020 das Tanzstück „It’s all forgotten now“. Erfahrt mehr in unserem Spielplan. Außerdem laden wir euch herzlich zu unserem nächsten digitalen Theaterclub am 13.12.2020 um 11:00 Uhr ein. Wir sprechen über Audiodeskription und Tanz mit der Audiodeskriptorin Xenia Taniko Dwertmann.
Anmeldung zum Theaterclub an presse@theaterhoeren-berlin.de
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