Konzerte, Theaterstücke, Lesungen und viele weitere kreative Ideen werden wegen des Kontaktverbots zurzeit im Internet realisiert. In den wenigsten Fällen wird dabei an Barrierefreiheit gedacht. Wie geht es weiter mit Audiodeskription im Theater, wenn die großen und kleinen Spielstätten geschlossen sind? Über die prekäre Situation von Live-Beschreibungen und BeschreiberInnen habe ich mich mit der Audiodeskriptorin Anke Nicolai unterhalten.
Über Anke Nicolai
Anke Nicolai ist seit 1997 Hörfilm-Autorin, Redakteurin, Tonregisseurin für Audiodeskriptionen in Kino und Fernsehen sowie Live-Beschreiberin im theater. Für ihre Audiodeskriptionen für Film und Fernsehen wurde sie bereits mehrmals mit dem Deutschen Hörfilmpreis ausgezeichnet. Darunter waren Filme wie „Die
Päpstin“ (Texterstellung), „Türkisch für Anfänger“ (Texterstellung) oder „45 Years“ (Redaktion/Studioproduktion).
Im Rahmen des Berliner Spielplan Audiodeskription beschreibt sie die VIVID Grand Show im Friedrichstadt-Palast Berlin. Darüber hinaus ist sie im gesamten deutschsprachigen Raum für ihre liebevoll ausgearbeiteten Live-Audiodeskriptionen von Theaterstücken bekannt.
Interview mit der Audiodeskriptorin Anke Nicolai
Lavinia: Ich denke mir, es ist doch mal interessant, wie wir alle mit der momentanen Situation umgehen, auch in dem Projekt. Wie geht es dir persönlich?
Anke: Einerseits ist es für mich tatsächlich eine unverhoffte Auszeit, was ich auch ganz schön finde und genieße. Gleichzeitig mache ich mir totale Sorgen um unsere gesamte Gesellschaft. Wir sind jetzt schon seit einer Woche auf dem Land. Wir haben ganz bewusst gesagt: Wir fliehen jetzt für zwei Wochen aus der Stadt, weil wir Angst vor dieser Ausgangssperre hatten. Sie ist ja auch auf eine Art und Weise da. Du kannst dich nicht großartig durch die Stadt bewegen. Von daher sind wir jetzt froh hier zu sein. Wir können in der Natur sein. Wir haben ein Grundstück in Brandenburg und können einfach sofort im Garten sein und dort was machen. Arbeiten geht eigentlich nur abends. Wir haben unsere Tochter bei uns, die jetzt schon die dritte Woche keine Schule hatte. Du musst „Homeschooling“ machen, du musst das Kind betreuen und eigentlich willst du noch arbeiten. Das geht alles überhaupt nicht. Und das ist was, woran ich mich erstmal gewöhnen muss.
Lavinia: Hattest du am Anfang damit gerechnet, oder was war deine erste Reaktion, als du gehört hast, dass die Theater schließen?
Anke: Ich habe mit allen Häusern Rücksprache gehalten, um informiert zu sein. Die haben sich sofort bei mir gemeldet und ich halte die Maßnahmen für richtig. Ich unterstütze das. Ich habe damit gerechnet. Trotzdem ist es eine total unwirkliche Situation. Stephan Steinmetz vom Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen, mit dem ich letzte Woche telefoniert habe, meinte ganz betrübt: Wir sind verstummt, das Opernhaus ist verstummt“. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das ist für ihn als Dramaturg, der an diesem Haus arbeitet und mit der Musik lebt, gespenstisch dort zu sein, weil alles ruhig ist. Sie sitzen in ihren Büros und arbeiten, aber es gibt keine Orchesterklänge, niemand, der übt, oder wo man mal Gesang hört.
Lavinia: Findest du, dass überhaupt an Barriere-Freiheit bei den Live-Streams gedacht wird?
Anke: Nee, gar nicht. Sie holen jetzt heraus, was sie haben. Die Schaubühne zum Beispiel streamt gerade jeden Tag ein Stück aus dem Repertoire, aber natürlich haben sie das nicht auf Halde. So schnell kann niemand produzieren, oder nachproduzieren. Ich versteh das schon, dass sie jetzt erstmal aus der Not heraus ihrem Publikum etwas anbieten. Da gerade leider vor allem Audiodeskription so ein langwieriger Prozess ist, kann man das nicht mal eben schnell zu irgendwas hinzufügen. Ich habe jedenfalls keine Idee, wie das gehen kann oder soll, zumal z.B. die Schaubühne gerade jeden Tag ein anderes Stück im Internet bereitstellt. Ansonsten gab es das noch nie, dass eine TV-Ausstrahlung von einem Theaterstück eine AD hatte.
Lavinia: Hast du Kontakt zu anderen Audiodeskriptoren und wie geht es ihnen in dieser Situation?
Anke: Alle haben gerade Sorge, ob es genug Aufträge geben wird. Diese Auswirkungen werden wir erst in ein paar Monaten spüren, aber aktuell hat sich eigentlich für die TV-Arbeit nichts geändert. Es wurde auch vorgeschlagen, dass wir uns untereinander unterstützen.
Wenn jemand Unterstützung braucht. Zum Beispiel wenn man einen Auftrag hat, den man nichtalleine schafft, kann man in die Liste schreiben und dann können sich Autoren melden. Das fand ich eine schöne Idee. Es gibt sicherlich KollegInnen, die stärker davon betroffen sind und vielleicht dann staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen müssen, weil möglicherweise andere Sachen, die sie nebenbei noch gemacht haben, komplett wegbrechen, und dann die Einnahmen nicht mehr da sind. Das ist bei mir zum Glück nicht so. Gestern fand sogar eine Sprachaufnahme statt, zu einem Kinofilm und das Studio hat sich gut darauf vorbereitet, mit mehreren Türen, alles desinfiziert, und die Sprecherin bringt ihren eigenen Kopfhörer mit. Der Klopfschutz am Mikrofon wird danach sofort ausgetauscht. Man sagt sich hallo, aber ansonsten ist man voneinander getrennt. Es hat wunderbar funktioniert.
Lavinia: Was hältst du von Flashmobs? Zum Beispiel hatte ich bei mir vorm Haus öfter eine Opernsängerin, die einfach mal auf der Straße gesungen hat, oder wie sie es in Italien machen – einfach vom Balkon singen?
Anke: Großartig, ich finde das toll. Es hat auch etwas sehr Solidarisches. Weil wir alle in der gleichen Situation sind und irgendwie das Beste daraus machen müssen. Und ich habe auch diese Videos gesehen und im Netz gehört. Ich habe mich total darüber gefreut und dachte aber im gleichen Moment: Ich glaube, in Deutschland ist sowas nicht möglich. In Deutschland sind alle viel zu verklemmt.
Lavinia: Was würdest du dir wünschen, wenn es erstmal so bleibt. Was sollten die Theater mehr bieten? Was können sie überhaupt machen?
Anke: Vielleicht ist das dann doch die Variante, dass vorproduzierte Produktionen (mit Audiodeskription) beauftragt werden und über Streaming oder über eine Internetseite zur Verfügung gestellt werden. Das hat natürlich einen Nachhaltigkeitseffekt. Es könnte auch längerfristig dort zur Verfügung stehen und somit viele Menschen erreichen – viele blinde Menschen, die an ganz unterschiedlichen Orten leben. Sonst kann man immer lokal die Sachen mitnehmen, die es so gibt. So muss man nicht reisen oder es bedauern, dass man jetzt nicht vor Ort ist. Vielleicht wäre das eine Möglichkeit.
Lavinia: Hast du noch ein positives letztes Wort?
Anke: Ich glaube auch, wir können uns alle in dieser Krise auf das besinnen, was wirklich wichtig ist. Vorher haben wir alle, ich spreche mal eher von mir, gearbeitet, gearbeitet, gearbeitet. Dieses Innehalten und Entschleunigen im Moment, was uns durch Corona verordnet wird, hat etwas Gutes. Trotz Existenzängsten und letztlich der großen Unsicherheit, wie es weitergeht oder was danach kommen wird, hoffe ich, dass jeder wieder die Zeit für sich selbst nutzen kann. Sei es durch Lesen oder was auch immer. Was man schon immer machen wollte. Was immer liegen geblieben ist, kann man jetzt z.B. tun. Das ist eigentlich was sehr Schönes. Geschenkte Zeit, ein Stück weit.
Mehrmals monatlich halten wir euch über die aktuellen Vorstellungen mit Audiodeskription auf dem Laufenden. Hier geht’s zum Newsletter.