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Die Erstellung einer Theater-Audiodeskription aus der Sicht der blinden Co-Autorin

Posted in Gastbeitrag, and Theaterrezension

Am 24.03.2022 fand im großen Saal der Berliner Volksbühne die Premiere und Uraufführung des Stückes „Geht es dir gut?“ von René Pollesch und Fabian Hinrichs statt.
Zu einigen Vorstellungen sollte es auch eine Live-Audiodeskription geben, die von Imke Baumann erstellt und gesprochen wurde.

Seit circa zehn Jahren arbeite ich nun schon mit einem Sehrest von um die zwei Prozent hauptberuflich als Hörfilmautorin. An der AD eines Theaterstücks hatte ich jedoch noch nie mitgewirkt und so freute ich mich sehr über die Anfrage.

Zum Stück

„Geht es dir gut?“ behandelt sehr direkt und emotional die innere Distanz zwischen den Menschen, die durch die äußere Abgeschiedenheit, ausgelöst von Pandemie und Krieg, stärker denn je zu Tage tritt.
In langen Monologen konfrontiert der einzige Schauspieler Fabian Hinrichs sein unsichtbares Gegenüber und das Publikum mit der Hilf- und Sprachlosigkeit der letzten Jahre. Plötzlich scheint ein Ausweg aus jener Kälte in Sicht. Doch die riesige Rakete, die den einzigen aufwändigeren Bestandteil in Katrin Bracks Bühnenbild darstellt, lässt ihn einsam zurück und so bleibt ihm nur eine übergroße Nussschale als Rettungsboot und seine Gitarre, mit der er am Ende des Stücks seine Gedanken untermalt.

Unterstützt wird Hinrichs bei der circa 90-minütigen Vorstellung von den beiden Chören „African Voices“ und „Bulgarian Voices Berlin“ sowie der Breakdance-Gruppe „Flying Steps Academy“.

Unser Vorgehen

Für mich als blinde Co-Autorin gibt es mehrere Möglichkeiten, die Ansprüche an eine gute Audiodeskription in die Arbeit einzubringen: Zum einen die Variante, einen Text komplett gemeinsam mit mindestens einer sehenden Person zu erstellen, oder aber eine Redaktion, bei der der fertige Text auf Verständlichkeit geprüft wird. Hier sind die Möglichkeiten der Mitgestaltung freilich eingeschränkter.
Wir haben uns bei diesem Theaterstück für eine Variante dazwischen entschieden. Wie üblich stand uns für unsere AD-Erstellung ein Probenmitschnitt des Stückes zur Verfügung. Dieser reichte aber nicht aus, um alle wichtigen Elemente gut genug zu erfassen. Es war also nötig, das Stück mehrere Male live zu erleben, auch um Änderungen der Performance in unserem Text zu berücksichtigen, die im Laufe einiger Vorstellungen entstanden.

Imke besah sich also mehrmals live das Stück, während ich mich vorerst alleine mit dem Videomitschnitt beschäftigte. Ich hörte mir die Aufnahme ohne Beschreibung einer sehenden Person an, um unvoreingenommen erste Eindrücke gewinnen und die Stimmung der einzelnen Passagen erspüren zu können.
Meine ersten Fragen und Anregungen konnte Imke als unverfälschten Input von Anfang an in ihre Beschreibung einfließen lassen. Fragen, die mich vor allem interessierten, waren zum Beispiel: Wie ist Hinrichs‘ Mimik und Gestik während seiner Monologe? Wann bezieht er das Publikum bewussst und sichtbar ein, indem er beispielsweise eine bestimmte Person anspricht? Wie interagiert er mit weiteren auf der Bühne hörbaren Personen? Was geschieht während der wilderen und lauteren Musikpassagen, die im Kontrast zu seinem auf ihn selbst konzentrierten Spiel stehen?

Später traf ich mich mit Imke, um gemeinsam – immer noch anhand des Mitschnittes – den schon fortgeschrittenen Text durchzugehen.
Wir begannen mit der Einleitung, die sowohl live im Saal gesprochen werden, als auch vorab online abrufbar sein sollte.
Die Einleitung ist eine gute Möglichkeit, ausgewählte Objekte, Personen oder Kostüme vorab zu beschreiben, um die eigentliche AD während des Stückes atmen zu lassen und um sich dann auf die Handlung fokussieren zu können. So fanden wir in der Einleitung zum Beispiel Platz für die Beschreibung der Architektur des Theatersaals, des Aufbaus der Bühne, einiger Kostüme der Chöre und ein paar wichtiger Requisiten. Wir hätten beispielsweise für die Beschreibung der Rakete während ihres bombastischen Auftritts nicht den nötigen Platz und die Ruhe gefunden.

Personen- bzw. Kostümbeschreibungen können sich so anhören:

Hinrichs‘ hohe Gestalt verschwindet in einem sehr weit und gerade geschnittenen Parka mit großer Kapuze, der ihm bis kurz über die Knie reicht. Das Kleidungsstück erinnert in seiner Schlichtheit an eine Mönchskutte. Es ist verwaschen olivgrün, wirkt im Licht aber eher sandfarben. Die Kapuze ist am Rand mit weiß-braunem Fell abgesetzt. Die Ärmel enden in Manschetten wie bei einem Hemd. Ein Schnürzug in der Taille ist vorhanden, kommt aber nicht zum Einsatz. Zu Stückbeginn stecken Hinrichs‘ Füße in schmal geschnittenen dunkelbraunen Wildlederschuhen; später spielt er barfuß. Er trägt keine Hosen. Seine schlanken Unterschenkel und die schmalen Füße heben sich auffällig unter dem weit schlenkernden Parka von dem dunklen Bühnenboden ab.

Meine Aufgabe bestand in dieser Phase darin zu prüfen, ob sich die richtigen Bilder vor meinem inneren Auge bei der Beschreibung ergeben. Ich hinterfragte Bewegungsabläufe und Ausrichtungen von Requisiten. Hier wurde deutlich, wie viel einzelne kleine Kürzungen, Ergänzungen oder metaphorische Umschreibungen das Verständnis erleichtern.
Nachdem wir das komplette Stück mit Imkes AD durchgearbeitet und einige Dinge abgeändert oder vermerkt haben, blieben schließlich noch ein paar Fragen übrig, die es bei dem gemeinsamen Besuch einer Vorstellung zu beantworten galt.

Theater-AD und Film-AD

Der markanteste Unterschied zwischen Film- und Theater-AD ist, dass es nicht möglich ist, eine Theater-AD vorab aufzuzeichnen. Es existieren im Gegensatz zum Film keine Timecodes für die Sprecher, und jede Vorstellung ist einzigartig. Es gilt, spontan zu reagieren und den vorbereiteten Text an das Spieltempo und eventuelle Änderungen von Art und Reihenfolge der Handlungen anzupassen. Besonders wichtig ist es, Geräusche einzubeziehen und im Zweifelsfall auch für sich sprechen zu lassen. In unserem Fall war es beispielsweise nicht möglich, anhand des Mitschnittes zu beurteilen, ob bestimmte Verortungen von Personen notwendig sind, oder ob gewisse Bewegungen auch ohne Beschreibung gehört werden. Es war eine besondere Herausforderung, gerade während der Monologe nicht zu viel und nicht zu wenig zu beschreiben. Eine weitere Schwierigkeit lag darin, dass es uns an einigen langen Pausen explizit verboten war, die Lücken mit Text zu füllen, um die Leere wirken zu lassen. Dies ist für eine nicht sehende Person natürlich problematisch, da sie nicht einschätzen kann, ob gerade etwas Bedeutendes geschieht oder ob es ein technisches Problem mit dem Funk-Empfänger gibt. Die Beurteilung dieser Pausen vertagten wir ebenfalls auf den Theaterbesuch.
Vor diesem Besuch gab es eine letzte telefonische Abnahme des Textes, in den nun meine Wünsche und ein paar Änderungen einzelner Handlungselemente eingearbeitet waren. Mit wenigen letzten Formulierungsanregungen meinerseits verabredeten wir uns dann zur finalen Beurteilung im Theater.

Die Prüfung der AD während der Vorstellung

Im Oktober war es dann soweit und ich besuchte mit zwei weiteren Saalprüferinnen – Kathrin Wiermer und Heike Salchli – eine der Vorstellungen mit der von Imke live gesprochenen AD.
Meinen Begleiterinnen fiel sofort auf, dass unsere Einführung verhältnismäßig lang war. Und so einigten wir uns nach der Vorstellung gemeinsam auf einige weitere Kürzungen und Umstellungen. Eine ausführliche Version sollte dann online verfügbar sein. So ging kein mühsam formulierter Text verloren und wir konnten die Gefahr umgehend beheben, die Zuhörenden gleich zu Anfang mit zu viel Information zu überfordern.

Auch während unserer Vorstellung gab es wieder einige spontane Änderungen von Fabian Hinrichs. Er wandelte seinen Text hier und da ab oder ließ sich für bestimmte Handlungen besonders viel Zeit, sodass es für Imke nicht leicht war, die Einsätze zu treffen. Sie machte ihre Sache aber sehr gut und der Text ging im Großen und Ganzen schön auf. Insgesamt war es ab und an tatsächlich relativ viel Information und ich war froh, entscheiden zu können, dass wir einige Positionsangaben getrost weglassen konnten, da Hinrichs‘ Umherstreifen auf der Bühne live deutlich zu hören war. So konnten wir unseren Text nochmal entzerren.

Die letzte große Herausforderung war es, die sehr akrobatischen und waghalsigen Einlagen der Breakdance-Gruppe zu beschreiben. Auch die Tänzer machen nicht bei jeder Vorstellung dieselben Moves und es ist nahezu unmöglich, die komplexen Figuren synchron und exakt in Worte zu fassen. Wir entschieden uns darum auch hier, einige immer auftauchende Figuren in die Einleitung mit aufzunehmen und somit vorab zu beschreiben, um dann im Live-Moment mehr Raum zu generieren und die atemberaubenden Figuren wirken zu lassen.

Eine dieser Beschreibungen lautet:

Bei einer weiteren Figur lässt sich der Breaker auf die Hände fallen. Sein Körper rotiert zwischen Vorder- und Rückseite. Schnell kreisen gleichzeitig seine gespreizten Beine knapp über dem Boden unter den Händen durch.

Zieht man solch komplexe Elemente vor, haben die Zuhörenden – wie wir glauben – mehr von den lauten, überfordernden Momenten. Weniger ist eben doch mehr!

Der Abschluss

Nach der Vorstellung saßen wir noch in einer schönen Runde zu einem kleinen Auswertungsgespräch beisammen und notierten die erwähnten Erkenntnisse. Wir hatten auch die Möglichkeit, dem netten Techniker einige Wünsche mitzugeben. Imkes Beschreibung klang sehr direkt in unseren Ohren, was teilweise ablenkte. Wir wünschten uns einen Mute-Knopf für die Sprachpausen und diskutierten einige Möglichkeiten einer anderen Mikrofonierung.

Nach diesem Feinschliff hoffen wir, sagen zu dürfen, dass unsere Audiodeskription verständlich und stimmig geworden ist und dem seheingeschränkten Theaterbesucher einen gelungenen Abend ermöglichen wird. Bei mir persönlich wurde definitiv das Interesse an der Theater-AD geweckt und ich freue mich schon auf weitere Projekte und tolle Vorstellungen!

Die nächste Vorstellung

Die nächste Vorstellung von „Geht es dir gut?“ findet am 11. Dezember 2022 um 20 Uhr (Tastführung um 19 Uhr) in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz statt. Ihr könnt eure Karten bestellen unter besucherservice@volksbuehne-berlin.de oder telefonisch unter 030 / 24 06 57 77.

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