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Viel Glamour, Saltos und ein bisschen Kitsch

Posted in Gastbeitrag

Über 100 Künstler*innen, die größte Theaterbühne der Welt und spektakuläre Akrobatik – die „Arise Grand Show“ im Friedrichstadt-Palast verspricht große Unterhaltung. Da nach langer Zeit der Pandemie wieder eine Audiodeskription erstellt wurde, besuchte ich erstmals eine Vorführung an diesem traditionsreichen und glamourösen Ort.

Der Palast

Für alle, die den Friedrichstadt-Palast noch nicht kennen, beschreibe ich ihn kurz. Das Gebäude ist von außen sehr eindrucksvoll, nimmt fast einen ganzen Block ein und ist von der Friedrichstraße nicht zu übersehen. Das Haus spart nicht mit Superlativen: über 100 Jahre Geschichte, die größte Theaterbühne der Welt und mit knapp 2000 Plätzen das größte Theater Berlins. Mir fallen bei meiner Ankunft als erstes die vielen Tourist*innen auf, die ohne Jacke aus den Reisebussen durch den Eingang strömen. Für sie gehört ein Besuch offensichtlich zum Pflichtprogramm. Es ist nach der langen Corona-Zeit immer noch ungewohnt, so viele Menschen (ohne Maske) gut gelaunt auf einem Haufen zu sehen. 

Ich kann mit meiner Begleitung den Nebeneingang nutzen, erhalte das Empfangsgerät für die Audiodeskription mit Kopfhörern und werde vom sehr freundlichen Personal über einen langen Flur direkt zum Tastmodell geleitet, an dem sich bereits einige blinde Besucher*innen den Aufbau der fahrbaren Bühne zeigen lassen. Die Papp-Rekonstruktion gefällt mir sehr gut. Die Gestaltung der Bühne ist an das Auge angelehnt. Oberhalb der Bühne ist beispielsweise ein halbrunder Bogen, der das Augenlid symbolisiert. Im Saal fällt mir als erstes auf, dass die Bühne tatsächlich extrem groß ist. Die Plätze steigen im Halbrund leicht auf. Sie sind sehr eng angeordnet. Wir sitzen relativ weit hinten, aber der Blick auf die Bühne ist einwandfrei.

Die Show

Gerade auf meinem Platz angekommen, beginnt über die Kopfhörer auch schon die Einführung des Audiodeskriptions-Teams um Sprecherin Jutta Polic. Ich bin dafür sehr dankbar, da ich mich nicht in das Stück eingelesen habe. Es ist mit etwa 20 Minuten die längste Einführung, die ich vor einem Stück je gehört habe. Das ist zwar angesichts der Länge und des Umfangs des Stücks verständlich. Mir fällt es jedoch schwer, bis zum Ende zu folgen. 

Die Handlung lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Der ehemalige Star-Fotograf Cameron, der einst mit seiner Muse um die Welt flog, befindet sich nach ihrem Verlust in einer Art Depression. Sie war alles, was er liebte und Inspiration für seine Kunst. Ihm fehlen Antrieb und Inspiration und er ist geplagt von Selbstzweifeln. Dann trifft er auf die Person „Licht“, die ihn auf eine Zeitreise durch sein extravagantes Leben mitnimmt. Er versucht sich seinen Ängsten zu stellen und begegnet der Person „Zeit“. Sie ermöglicht ihm ein letztes Treffen mit seiner Muse, wonach er sich dazu entschließt fortan jeden Moment seines Lebens zu genießen und wertzuschätzen. Ein Wendepunkt, Cameron gewinnt seine Lebensfreude zurück und die Show wird noch bunter. Im Kern geht es in der Show um die Liebe oder in den Worten des Theaters: „aufzustehen, nicht aufzugeben, sich den Glauben an die unsterbliche Kraft der Liebe zu bewahren und auf Licht am Ende jeder Dunkelheit zu vertrauen“.

Das ist sehr pathetisch und etwas kitschig. Die Texte, in Form von Sprechgesang, sind größtenteils sehr einfach gestrickt. Das wirkt so, als gehe es hauptsächlich darum, dass sie wirklich jede und jeder verstehen kann. Die Musik kann mich nur phasenweise begeistern. Etwa in den hebräischen und persischen Nummern. Größtenteils empfinde ich sie als langatmig und schnulzig. Viel eindrucksvoller als Handlung, Musik und Texte sind die Choreografien und artistischen Einlagen. In der 2,5 stündigen Show sind über 100 Künstler*innen im Einsatz, hinter der Bühne spielt ein Orchester und auf der Bühne passiert ständig etwas Neues. Das Ganze ist farbgewaltig und überwältigend. Aber zum Teil scheint es mehr um Effekte als um Inhalte zu gehen. Am eindrucksvollsten sind für mich die beiden Akrobatik-Gruppen Troupe Pronin und New Flying Cáceres, die vor und nach der Pause je eine extrem spektakuläre Aufführung darbieten. In schwindelerregenden Höhen fliegen sie mit Saltos und Drehungen von Schaukel zu Schaukel bzw. von Trapez zu Trapez. 

Die Audiodeskription

Die Audiodeskription ist technisch und inhaltlich ausgezeichnet. Die Kopfhörer liegen angenehm am Ohr, die Lautstärke lässt sich gut regulieren und es dringen zu jeder Zeit genug Geräusche des Bühnengeschehens durch. Die Einführung vor dem Stück fiel für meinen Geschmack etwas zu lang aus. Hier hätte der Schwerpunkt mehr auf der Beschreibung der Protagonist*innen liegen können. Zwar erhalte ich interessante Hintergrundinfos zum Setting, zur Bühne und den Künstler*innen, mit denen ich vor meiner sehenden Begleitung glänzen kann. Aber es sind für mich zu viele Infos, um bis zum Ende zu folgen. Vielleicht wäre es noch schöner, mit der Einführung früher zu starten und die Inhalte aufzuteilen. Dann gäbe es mehr Zeit, die Fülle an Informationen aufzunehmen. 

Die Audiodeskription führt mich gekonnt, ruhig und mit den nötigen Emotionen durch das Stück. Natürlich gelingt es mir nicht zu jeder Zeit, das komplette Bühnengeschehen und die extravaganten Outfits zu erfassen. Das ist zum einen in der kurzen Zeit, die für Beschreibungen bleibt, schlicht und ergreifend nicht möglich. Zum anderen passieren so viele Dinge auf einmal, dass ich mich am Ende der Vorführung kaum an die Beschreibungen erinnern kann. Besonders unterhaltsam sind die Erklärungen zu den Akrobatik-Nummern. Hier überschlägt sich die Stimme von Jutta Polic bei den Flügen der Artist*innen und es hat etwas den Anschein einer Live-Audiodeskription beim Sport.

Was bleibt?

Der Friedrichstadt-Palast bietet große Unterhaltung mit einer Show der Superlative. Nie zuvor habe ich so viele Menschen zugleich auf einer Bühne gesehen. Die Tanz-, Ton- und Lichtinszenierungen sind einzigartig, der Saal und Pausenbereich imposant. Bei mir entsteht jedoch der Eindruck, dass möglichst viele künstlerische Segmente abgedeckt werden sollen und es mehr um Effekte als um Inhalte geht. Es erschließt sich mir zum Beispiel nicht, warum es für eine Show gleich zwei Akrobatik-Gruppen gibt mit jeweils nur einer Nummer. Ihre Vorstellung ist aus meiner Sicht auch kaum mit der Handlung des Stücks verbunden. 

Ich erinnere mich an meine Zeit als Kellner in einem etwas kleineren Berliner Varieté. Die Show langweilte mich nach dutzendfach gesehenen Darbietungen. Aber im Nachhinein fällt mir auf, dass sie viel mehr Esprit und Humor enthielt. Diese Elemente fehlen mir in der „Arise Grand Show“. Dennoch ist der Friedrichstadt-Palast einen Besuch wert, Dank der Audiodeskription war ich mittendrin dabei, konnte der Show problemlos folgen und erhielt sogar Infos, die meiner sehenden Begleitung verborgen blieben.

Die nächste Vorstellung

Die nächste Vorstellung von „Arise“ findet am 06.01.2023 um 19.30 Uhr (keine Tastführung!) im Friedrichstadt-PALAST statt. Ihr könnt eure Karten bestellen per Mail happiness@palast.berlin oder telefonisch unter 030 / 23 26 23 26.

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Relevante Links

Jutta Polic in die Stimmen des Berliner Spielplan (https://blog.theaterhoeren-berlin.de/2021/10/25/die-stimmen-des-berliner-spielplan-audiodeskription/)

Arise (https://www.palast.berlin/show/arise-grand-show/)

Troupe Pronin (https://www.youtube.com/watch?v=7eSt22a7i2k)

New Flying Cáceres (https://www.youtube.com/watch?v=yuwEY4Ah204)