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Audiodeskription als Stadtführung

Posted in Theaterrezension

Funktioniert Audiodeskription auch draußen? Die Jugendtheaterwerkstatt Spandau öffnet wieder ihre Tore und diesmal geht es an die frische Luft der Spandauer Altstadt. Im Rahmen des Wanzenfestivals organisiert die JTW wieder einmal eine offene Audiodeskription, wie ich sie bereits ein Jahr zuvor beim „Herrn der Krähen“ erlebt habe. Eine offene Audiodeskription heißt, dass jeder die Live-Beschreibung hört, die an diesem Abend von Felix Koch eingesprochen wird. Es ist seine Stimme, die die ca. sechs blinden und sehbehinderten Zuschauer*innen durch das Stück „Die Wanze“ von Wladimir Majakowski führt.

13 Darstellerinnen spielen jeweils fünf Figuren

Treffpunkt ist der Biergarten eines Cafés in Spandau. Es ist laut, weshalb die zwölf Schauspieler*innen plus einem Musiker laut und deutlich über die Gespräche der übrigen Gäste sprechen müssen. Zu tasten gibt es leider nichts. Selbst das mobile Klavier ist nur zu hören, während es zu uns herübergerollt wird. Als Ausgleich dafür erklingt es später in einer überraschend guten Soundqualität. Was diese kleine Vorstellungsrunde mir vor allem vermittelt, ist der Umfang an Figuren, der jeder und jede der Darsteller*innen verkörpert: Reporter, Tierarzt, Hochzeitsgäste, Trauzeugen, Bräutigam, Braut, Schwiegermutter, Kinder, Feuerwehrmänner, Verkäufer und natürlich die Wanze. Die Namen von dreizehn Darsteller*innen inklusive jeweils drei bis fünf Figuren kann ich mir beim besten Willen nicht merken.

Wir folgen der Geschichte

„Die erste Station ist in der Mauerstraße, einer kleinen Nebenstraße an der Seite des Kaufhauses C&A. Die hohe Fassade des Gebäudes ist cremefarben verputzt. Über dem Erdgeschoss steht ein flacher Überhang hervor. Darunter steht Mathias links mit seinem Klavier in einer Ecke. Rechts beginnt die Schaufensterfront. Vorne an der Straßenecke befindet sich eine Litfaßsäule.“ (aus der Audiodeskription von „Die Wanze“, erstellt von Joyce Ferse, Felix Koch und Barbara Fickert)

„Die Wanze“ beginnt am Café Lutetia und führt von dort über mehr als zehn Etappen durch die Spandauer Altstadt. Damit wir an den gefährlichen Stellen nicht von entgegenkommenden Passanten, Autos, Fahrrädern und E-Scootern umgenietet werden, gibt es einen Darsteller, dessen einzige Aufgabe zu sein scheint, uns zum Gänsemarsch in einer Reihe aufzufordern. Es klappt. Nach meinem Wissen ist jedenfalls niemand in der Havel oder unter den Rädern eines E-Scooters gelandet.

Während wir durch die Straßen marschieren, folgen wir gleichzeitig der Geschichte des Emporkömmlings Bratfisch. In den 1920ern möchte er die gutbürgerliche Elsevira heiraten, um gesellschaftlich aufzusteigen. Ein Feuer macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Alle Hochzeitsgäste kommen um. Nur Bratfisch überlebt, weil er durch eine Überschwemmung zu Eis gefriert. Jahrzehnte später entdecken ihn Vertreter*innen einer vermeintlichen und sterilen Hochkultur und beschließen, ihn aufzutauen. Leider befreien sie nicht nur Bratfisch aus seinem Schlaf, sondern auch eine Wanze. Während Bratfisch alles andere als zufrieden mit der leidenschaftslosen Welt von heute ist, beginnt die Wanze, Mensch und Tier zu überfallen.

Einen Audiodeskriptor bei der Arbeit beobachten

Als ich vor einem Jahr „Der Herr der Krähen“ mit offener Audiodeskription gehört habe, war ich nicht überzeugt. Der Gedanke, dass alle Zuschauer*innen für barrierefreie Angebote sensibilisiert werden, ist zwar ein Pluspunkt. Wenn dann aber die Audiodeskriptorin stellenweise nicht zu verstehen ist, weil auf der Bühne siebzehn Menschen auf einmal reden, kann ich das nicht barrierefrei nennen.

Felix ist an diesem Abend viel besser zu verstehen als Anke Nicolai, die die Audiodeskription vor einem Jahr eingesprochen hat – jedenfalls, wenn man direkt neben ihm steht. Das ist außerdem das erste Mal, dass ich einen Audiodeskriptor bei der Arbeit beobachten und zwischendurch ein paar wenige Worte mit ihm wechseln kann. So kann er Feedback gleich umsetzen. Zum Beispiel muss er zwischendurch den Lautsprecher wechseln, weil der erste immer wieder aussetzt. Wenn man nicht direkt neben ihm steht, kann man ihn aber leider nicht mehr klar verstehen. Es ist also die Aufgabe der Begleitperson, die entweder selbst oder von der JTW organisiert wurde, in Felix‘ Nähe zu bleiben. Felix ist es auch auferlegt, seine Schäfchen beisammen zu halten. Keine einfache Aufgabe und eigentlich auch nicht die des Audiodeskriptors. Zwischen den Etappen versucht er zu beschreiben, wie die nächste Szene aussieht, aber die Beschreibung geht bei mir leider im Getümmel unter. Ich bin darauf konzentriert, meine Begleitung anzuhalten, Felix nicht aus den Augen zu lassen, während ein Pulk von Menschen um mich herumläuft. An der ersten Etappe setzen wir uns auf die ausklappbaren Anglerhocker, die wir zu Beginn in die Hand gedrückt bekommen. Es gibt einige Lieder, die ich allerdings wegen der Akustik des offenen Raumes textlich nicht verstehe. Zu Beginn stehen die Darsteller’innen einfach zu weit weg von unserer kleinen Gruppe. Bei den folgenden Etappen werden wir besser platziert.

Audiodeskription als Stadtführung erregt Aufmerksamkeit

Wenn ich bedenke, wie schwierig es sein muss, zwei Stunden lang ein Stück zu beschreiben, das sich durch die Stadt bewegt sowie gleichzeitig auf das notwendige Equipment, die Umgebung und die blinden und sehbehinderten Zuschauer*innen zu achten, sage ich: Hut ab! Ich hätte mir zwar noch jemanden gewünscht, der unsere Gruppe an jeder Etappe platziert, aber alles in allem habe ich eine unterhaltsame Tour durch die Stadt. Besonders vorbeifahrende Autos mit und ohne Anhänger, Fahrradfahrer mit lauter Musik und E-Scooter, die Felix ausnahmslos beschreibt, sorgen für ein Schmunzeln bei mir, und ich würde wetten, auch auf Seiten der Beschriebenen. Auf jeden Fall erregt diese Art der Audiodeskription als Stadtführung Aufmerksamkeit, und ist damit eine ausgezeichnete Sensibilisierungsmaßnahme für sehende Theatergänger*innen und Passant*innen. Die JTW hat Spandau an diesem Abend gezeigt, wie barriereärmeres Theater aussehen kann.

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