Direkt zum Inhalt

Barrierefreiheit analog und digital

Posted in Interviews

Besonders in den vergangenen anderthalb Jahren habe ich so viele Webseiten auf Barrierefreiheit getestet wie nie zuvor. Nun, wo es so aussieht, dass es in dieser Spielzeit wieder Theater im Theater geben wird, stellt sich mir aber auch die Frage nach der analogen Barrierefreiheit vor Ort – eine Frage, die ich mir seit unseren letzten Sensibilisierungsschulungen Anfang 2020 nicht mehr gestellt habe. Die blinde Künstlerin und Redakteurin für Audiodeskription, Silja Korn, gibt einen Einblick in die analogen und digitalen Barrieren für blinde Theaterbesucher*innen.

Wie schnell kannst du dir eine Webseite aneignen?

Silja: Viele Seiten sind unübersichtlich. Da steht, z.B. „Brot backen“. Dann klicke ich auf Enter, dann kommt da gar nicht Brot, sondern erst etwas anderes. Dann muss ich „Brot backen“ im Suchfeld eingeben. Trotzdem komme ich nicht ans Ziel und das ist ganz schön anstrengend. Ich gebe zwar nicht auf, aber ich sitze schon länger davor als jemand, der sieht und den Überblick hat. Mit dem Screenreader oder der Braillezeile lasse ich mir dann alles Reihe für Reihe vorlesen, aber dann habe ich keine vollständige Übersicht. Ich finde, dass die Technik so rasant voranschreitet und manche Menschen gar nicht so schnell hinterherkommen. Du hast gerade ein Programm kapiert, dann kommt schon wieder was Neues. Das musst du ausprobieren. Und wenn du sehen kannst, ist es natürlich einfacher. Da kannst du schneller gucken: „Aha, so und so und dann hast du den Überblick.“ Wenn die Webseite mich interessiert, geht es relativ schnell, aber wenn es technisch ist, dauert es schon eine Weile. Ich bin kein Technikfreak. Ich will lieber Kunst machen. Deswegen ist Technik für mich totale Nebensache.

Wir Blinden haben ganz schön viel Aufwand. Selbst, wenn du ein Smartphone hast und die Griffe beherrschst, ist das mit mehr Aufwand verbunden als für Sehende.

Bevorzugst du eine komplett barrierefreie Webseite oder genügt dir eine Extra-Seite mit barrierefreien Inhalten?

Silja: Ich bin erstmal damit zufrieden, dass ich eine Extra-Seite bekomme und überhaupt etwas machen kann. Ich mache bei Seiten-Checks mit. Da habe ich schon gemerkt, wie lange das dauert, bis eine barrierefreie Seite entsteht. Sie müssen jemanden haben, der sich damit auskennt. Das haben sie meistens nicht. Am Ende ist alles nur halbfertig. Dann habe ich doch lieber eine barrierefreie Seite, die ich selber nutzen kann als dass ich darauf warte, dass die Seite für alle barrierefrei ist. Wenn eine neue Seite geschrieben wird, können sie gleich an Barrierefreiheit denken, aber das machen sie meistens nicht. Man merkt oft, dass die Leute gar nicht hinterherkommen und wie lange das auch dauert, bis die Seite barrierefrei ist. Erst wenn ihnen einfällt: „Ach so, wir wollen ja die Blinden mit reinhaben“, wird was gemacht.

Wie barrierefrei sind Online-Theaterstücke mit Audiodeskription?

Silja: Ich habe gehofft, dass Online-Theaterstücke gut zu bedienen sind. Wenn ich auf die Seite der Theater gegangen bin, habe ich den Link zum Film mit Audiodeskription nicht gefunden. Und wenn ich ihn gefunden habe, hat es manchmal nicht funktioniert. Ich musste einen Code eingeben, der mir dann nicht auf der Braillezeile angezeigt oder vom Screenreader vorgelesen wurde. Er ist also völlig unsichtbar für mich. Und den Film anzuhalten, hat auch nicht funktioniert.

Einmal sollte ich gucken, ob der Chat eines Theaterstücks funktioniert. Das Problem war, das Eingabefeld zu finden. Als ich es endlich gefunden habe, habe ich etwas eingetippt. Ich weiß nicht, ob es jemals jemand gelesen hat, weil ich nie eine Rückmeldung bekommen habe. Ich fand es schade, dass man sich nicht einfach ein Theaterstück ohne Barrieren angucken kann. Wir haben es angesprochen, dass barrierefreie Angebote kommuniziert werden sollten, sodass sie leicht zu finden sind: Du machst den Link auf, und dann hast du gleich den Film. Am besten wäre es, wenn der Film gleich loslaufen würde, ohne dass du noch etwas machen musst. So muss ich mir doch jemanden holen, der sehen kann. Der ist auch nicht glücklich, dass man ihn stört. Und dann klappt es bei ihm vielleicht auch nicht.

Was sind die Barrieren im analogen Theater?

Silja: Erstmal dahinkommen – das Theater, den Saal und vorher die Toilette zu finden. Wenn die beim Theater nicht auf Menschen vorbereitet sind, die nichts oder wenig sehen, ist das unangenehm. Wenn ich mir später ein Getränk holen will und von meinem Sitz nicht wegkomme, weil ich mich nicht traue, würde ich nicht gerne alleine ins Theater gehen. Das ist genauso anstrengend wie im Museum, wo es manchmal sogar Leitlinien gibt. Trotzdem gehe ich nicht gerne alleine dorthin, weil diese Leitlinien nicht so toll wie in der U-Bahn sind und es mich anstrengt, mir gleichzeitig die Ausstellung anzuschauen. So ist es auch beim Theater. Erstmal der Weg dahin, du findest nicht gleich den Weg, und dann bist du vor Ort und musst dort wieder Hilfe haben. Es ist angenehmer, wenn du gleich eine Begleitperson mitnimmst und dann einen entspannten Abend hast. Aber wenn ich weiß, dass die Theater vorbereitet sind auf mich als blinder Mensch, dann würde ich auch alleine hingehen.

Wie sieht schlechte Vorbereitung aus?

Silja: Zum Beispiel komme ich da rein und keiner sagt mir, wo die Information ist. Wenn ich vor der Garderobe stehe, ist das Personal zwar da, sagt aber kein Wort.

Letztens bin ich am Alex auf eine öffentliche Toilette in einer Einkaufspassage gegangen. Die Toilettenfrau, hatte glaube ich noch nie einen blinden Menschen gesehen. Ich habe versucht, ihr zu erklären, was ich brauche, damit ich mich wohlfühle. Sie ist immer vor mir weggelaufen. Dann hat sie mich am Arm vor ein Waschbecken gezerrt. Und dann sagte ich: „Ich möchte noch auf die Toilette gehen.“ Sie sagte: „Sie stehen hier doch in der Behindertentoilette.“ Das kann ich doch nicht wissen, dass ich schon in der Behindertentoilette bin!

Das ist mir im Theater noch nicht passiert. Einmal habe ich fast eine Tür an den Kopf bekommen, aber so unmöglich wie die Toilettenfrau war zumindest noch keiner.

Welche Barrieren tauchen bei der Reservierung von Tickets auf?

Silja: Ich fände es gut, wenn ich eine Telefonnummer oder E-Mail-Adresse gleich finden würde. Kein Formular, sondern eine direkte E-Mail, wo ich anfragen kann, ob die Stücke audiodeskriptiv sind, wie ich die Karten bestelle und wie ich sie abholen kann. Formulare sind nicht angenehm, weil sie meistens nicht gut funktionieren. Bei einem Formular weißt du nicht, ob es überhaupt weggeschickt worden ist. Wenn ich aber eine E-Mail schicke, kann ich im Gesendet-Ordner gucken, ob sie wirklich ankommt.

Welche unterschiedlichen Bedarfe gibt es?

Silja: Die einen können das sofort, wenn sie sich dafür interessieren. Dann gibt es wieder Leute, die wie ich froh sind, dass sie den PC für den ganz normalen Hausgebrauch haben. Und dann gibt es Ältere, die das mit dem Internet gar nicht können. Aber man wird dann schon komisch angeguckt, weil es Blinde gibt, die alles beherrschen. Dann wird gesagt: „Hä, wenn die das können, warum kannst du das denn nicht?“ Und dann denkt man, man ist dümmer als die anderen. Man wird über einen Kamm geschoren und das finde ich traurig.

Fazit

Wo Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen unvorbereitet zusammenkommen, entstehen Barrieren. Digitale Barrieren entstehen durch unübersichtliche Angebote, komplizierte Wege bis zum richtigen Link und mangelnde Kommunikation. Analoge Barrieren tauchen auf, wenn es an der Sensibilisierung des Personals mangelt, sodass sich die blinden Zuschauer*innen und das sehende Service-Personal frustriert gegenüberstehen. Mehr Aufklärung muss her und mehr Verständnis für die Bedürfnisse des oder der Einzelnen.

Unser Newsletter rettet euch vor kultureller Langeweile

Mehrmals monatlich halten wir euch über die aktuellen Vorstellungen mit Audiodeskription auf dem Laufenden. Hier geht’s zum Newsletter.

 

Relevante Links