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Endlich wieder live im Theater!

Posted in Theaterrezension

Am 19. September bin ich endlich einmal wieder bei einer Theatervorstellung, die live im Theater stattfindet. „Herr der Krähen“ wird in der Jugendtheaterwerkstatt Spandau (JTW) gespielt und zwar mit offener Audiodeskription, die einmal nicht nur über Kopfhörer, sondern für alle ZuschauerInnen hörbar im ganzen Theatersaal zu hören ist. „Herr der Krähen“ basiert auf dem gleichnamigen Roman des kenianischen Autors Ngugi wa Thiong´o. Das Stück handelt von einem Land, das von einem Diktator regiert wird. Dieser hat es sich zum Ziel gesetzt, den größten Turm der Welt zu bauen. Gleichzeitig thematisiert die Geschichte die kleinen Probleme der einzelnen BürgerInnen, darunter Motorradfahrer, Polizisten, Arbeitslose und Hausfrauen. Während der Diktator die Bedürfnisse seines Volkes zugunsten seiner eigenen Glorie ignoriert, entsteht ein Konsultationsbüro namens „Herr der Krähen“. Angeführt wird es von einer der Hauptcharaktere Nyawira, die die Demokratie zurück ins Land bringen will. „Herr der Krähen“ ist eine komplexe Politparabel und eine Kritik am Größenwahn von Diktatoren. Leider ist das Stück auch stellenweise etwas langatmig.

Endlich wieder Tastführung!

Endlich gibt es wieder eine Tastführung. Die Bühne ist relativ kahl und besteht aus einer Vorder- und Hinterbühne sowie Stühlen, die in gebührendem Abstand aufgestellt sind. Alle siebzehn DarstellerInnen stellen sich zu Beginn der Tastführung vor. Einige Rollen wie Kamiti und Nyawira sind doppelt besetzt. Anschließend dürfen wir einige Kostüme wie den goldenen Umhang der Königin, die Brosche des Königs und die großen Augen des Gesetzes betasten. Bei einer so großen Anzahl von SchauspielerInnen ist es unmöglich, mir alle Namen zu merken. Auch reicht die Zeit nicht aus, um mir alle Kostüme im Detail anzusehen. Die, die ich in die Hände bekomme, sind aber durchaus einfallsreich. Besonders beeindruckend finde ich die Ohren der Staatssicherheit – zwei knallpinke Mülleimerdeckel, die die Schauspielerin sich an die Ohren hält, um besser zu hören.

Wie die Corona-Richtlinien in der JTW umgesetzt werden

Da dies mein erster Theaterbesuch seit dem Lockdown ist, bin ich besonders gespannt, wie die Corona-Richtlinien umgesetzt werden. Die blinden und sehbehinderten BesucherInnen haben sich eine Begleitperson organisiert. Die Tastführung findet in gebührendem Abstand statt. Nur das Betasten der Kostüme ist ohne Körperkontakt nicht möglich. Wie immer sitzt das blinde Publikum zuerst im Saal, um der Einführung der Audiodeskriptorin Anke Nicolai
zu lauschen. Auf der Bühne sitzen bereits die SchauspielerInnen auf Hockern, die mit anderthalb Metern Abstand nebeneinander platziert sind. Alle ZuschauerInnen tragen ihre Masken und die, die nicht zusammengehören, sitzen mit einem Platz dazwischen nebeneinander. Ein Teil des Stückes findet auch auf der Grasfläche im Innenhof des Theaters statt. Was die Abstandsregelungen für die SchauspielerInnen angeht, so halten sie sich selbst während des Stückes daran. Das ist besonders beeindruckend während der wenigen Sexszenen. Dabei stehen oder liegen sich die beiden SchauspielerInnen gegenüber und bewegen sich in relativ offensichtlicher Weise. Sicherlich eine besonders künstlerische Art, kontaktlosen Körperkontakt anzudeuten.

Währenddessen passiert einiges, das die Geschichte in ein Wirrwarr von Stimmen verwandelt

Zum ersten Mal kann ich eine offene Audiodeskription live miterleben. Das Stück an sich ist relativ lang und verwirrend. Daran kann auch Anke Nicolais Audiodeskription leider nichts ändern. Während der Diktator sein Turmprojekt „Marching to Heaven“ durchführt, wird er offenbar schwanger und gebiert schließlich am Ende des Stückes „Baby D“. Das D steht für Demokratie. Währenddessen passiert aber einiges, das die Geschichte in ein Wirrwarr von Stimmen und Geschichten verwandelt. Kamiti oder besser gesagt die beiden Kamitis treffen auf die beiden Nyawiras. Trotz Uniabschluss gibt es keinen Job für Kamiti. Gemeinsam mit Nyawira gründet er das Konsultationsbüro „Herr der Krähen“, um gegen die Ungerechtigkeit des königlichen Turmprojektes vorzugehen. Anführer der illegalen Gruppierung ist der fiktive Herr der Krähen. Zwischendurch passiert noch so einiges mehr: Ein Mann, der seine Frau schlägt, wird von einem Frauengericht verurteilt. Ein Motorradfahrer steht unentwegt in der Schlange für die Arbeitslosen. Der Diktator wird operiert, weil er plötzlich aufschwillt wie ein Hefeteig. Die SchauspielerInnen tanzen zu dem Lied „Dragostea Din Tei“ auf dem Rasen vor dem Theater. Der Herr der Krähen wird um Heilung gebeten und schließlich von der Regierung verfolgt.
Anke versucht, uns über all diese Geschehnisse hinweg einen Überblick zu geben, indem sie wiederholt, wer gerade spricht und wie sie sich bewegen. Der Nachteil einer offenen Audiodeskription ist jedoch, dass ich ihre Stimme eben nicht direkt im Ohr habe, sondern sie über einen Lautsprecher höre. Infolgedessen höre ich an manchen Stellen die lauten Rufe von siebzehn SchauspielerInnen, Musik und zusätzlich leise im Hintergrund das Gemurmel der Audiodeskription. Das meiste bekomme ich zwar mit, aber an vielen Stellen konnte die Lautstärke der AD einfach nicht mit der des Stückes mithalten. Dabei macht es einen Unterschied, ob ich am Rand oder in der Mitte sitze. Ich probiere beides einmal aus und stelle fest, dass ich in der Mitte ein wenig besser höre. Weitere Lautsprecher für die AD könnten sie leichter verständlich machen. Dazu muss ich sagen, dass ich selbst bei „normalen“ Theaterstücken mit AD die Lautstärke immer wieder hoch- und runterdrehen muss.

Danke Anke!

„Herr der Krähen“ ist ein langes und sowohl durch die vielen Figuren und Perspektiven als auch durch die Symbolik der Parabel kompliziertes Stück. Ich bin jedoch sehr erfreut, dass sich die JTW als einziges Theater in Berlin für eine offene Audiodeskription entschieden hat, zumal ich noch Maila Giesder-Pempelforths Worte im Kopf habe, wonach die Theater derartige Experimente als eine Zumutung für die sehenden Gäste empfinden. Meiner Auffassung nach scheint das Publikum sich einfach darüber zu freuen, wieder einmal ein Live-Theaterstück statt eines Livestreams miterleben zu können. Ich zumindest habe keine Beschwerden über Ankes Beschreibungen gehört. Im Gegenteil: Das Stück endet mit einem lauten „DANKE ANKE!“ von einer Schauspielerin und einem gewaltigen Applaus für die ansonsten selten anerkannte Stimme aus dem Off. Was kann man sich, trotz technischer Mängel, mehr wünschen?

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