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Fünf Voraussetzungen für erfolgreiche Tastführungen

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Als jemand, der sich viel mit Audiodeskription im Theater beschäftigt, bekomme ich oft die Frage gestellt: „Wie kann man Theatervorstellungen für Blinde erfahrbar machen?“ Die reine Beschreibung während eines Stücks erfordert viel Konzentration auf Seiten der blinden und sehbehinderten ZuschauerInnen. Manches Mal stößt man an die Grenzen seiner Vorstellungskraft oder die AudiodeskriptorInnen an die Grenzen ihrer Beschreibungsfähigkeit. Sei es aus Zeitgründen oder der allseits bekannten Wortfindungsproblematik, vieles bleibt ungesagt und dadurch unverstanden. Besonders im Theater tragen visuelle Elemente wie Kulissen, Requisiten und Kostüme zum Verständnis des Stückes bei. Sie können von den AudiodeskriptorInnen beschrieben werden. Noch besser ist es aber, wenn sich die Theater im Vorfeld die Zeit für eine Tastführung nehmen, während der tastbare Objekte erklärt, berührt, berochen und begangen werden können. Für ein immersives Theatererlebnis muss Theater mit allen Sinnen erlebbar sein. Was die wichtigsten Voraussetzungen für erfolgreiche Tastführungen sind, erfahrt ihr in diesem Beitrag.

1. Die Bühnenbegehung

In einigen Theatern ist der Ablauf vor Beginn des Stücks so eng getaktet, dass die vorherige Begehung der Bühne nicht möglich ist. Wenn es allerdings angeboten wird, ist eine Bühnenbegehung immer eine Bereicherung für die blinden und sehbehinderten ZuschauerInnen. Dabei werden die Form und Ausmaße der Bühne beschrieben und abgegangen. Kulissen zu befühlen und festzustellen, an welchem Ort sich was befindet, trägt zum räumlichen Verständnis des Publikums bei. Zusätzlich erleichtert es die Arbeit der AudiodeskriptorInnen.

2. Ertasten von Requisiten

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für erfolgreiche Tastführungen ist das Ertasten von Requisiten. Netzstrumpfhosen, Unterhosen, Handschuhe, Hüte, Theaterblumen mit LED-Effekt, Masken, Kleider – egal wie aufwändig die Kostüme und Requisiten eines Stücks sind, das Ertasten lohnt sich in jedem Fall. Wer nicht sehen kann, was die SchauspielerInnen tragen, für den ist es eine große Hilfe zu fühlen, dass Androidonnas Außenskelett in der VIVID Grand Show sich glatt und hart wie Plastik anfühlt, dass die TänzerInnen von Liebestod ein tapetenartiges T-Shirt tragen und dass die Theaterfarbe von Desdemona im Othello nach Crème riecht und sich auch so anfühlt. All dies macht die gesamte Vorstellung buchstäblich greifbarer und gibt den AudiodeskriptorInnen wiederum einen Bezugspunkt für ihre Beschreibung.

3. Gespräch mit der Besetzung

Selten bekommt man während einer Tastführung die Chance, mit dem Schauspielteam zu sprechen. Dabei lohnt es sich, wenn man im Vorfeld die Stimmen der SchauspielerInnen gehört hat und sie sich selbst beschreiben. Auch dies ist eine Zeitfrage und große Produktionen schaffen es zumeist nicht. In den Sophiensälen war es möglich, kurz mit der Besetzung zu sprechen und auch im Berliner Ensemble hat sich ein Chormitglied kurz vorgestellt. Es ist nicht in jedem Fall zwingend notwendig, bereichert aber immer das Theatererlebnis. Das gilt besonders für visuelle Vorstellungen wie Tanzstücke und Shows, wo wenig gesprochen wird und stattdessen viel getanzt, geturnt und gestikuliert wird. Einmal die Bewegungen eines Schauspielers taktil miterlebt zu haben, erleichtert die Vorstellung der Bewegungen ungemein.

4. Hintergrundinformationen zum Stück

Trotz Ertasten und Beschreiben gibt es vieles, was dem blinden und sehbehinderten Publikum verborgen bleibt. Als Ausgleich ist es deshalb schön, während der Tastführung oder Audiodeskription noch einmal auf Einzelheiten des Stücks und seine MacherInnen hingewiesen zu werden. Es macht Spaß zu erfahren, wer die Hüte von VIVID designt hat und wie viel sie gekostet haben, was die charakteristischen Elemente des Stücks sind und warum der Regisseur das Stück so und nicht anders inszeniert hat. Wenn all dies durch die AudiodeskriptorInnen während der Vorstellung erklärt wird, kann das für die ZuschaueuerInnen anstrengend werden.

5. Geschichte des Hauses

In den meisten Fällen bekommt man während einer Tastführung auch etwas über die Geschichte des Theaters zu hören. Jedes Haus verfügt über seine individuelle Geschichte, die es wert ist, gehört zu werden. So erfährt man zum Beispiel im Berliner Ensemble, dass der Reichsadler, der bereits seit der Kaiserzeit im Theater hängt, von Berthold Brecht mit einem großen roten X durchgestrichen wurde, das heute noch zu sehen ist. Der Friedrichstadt-Palast Berlin verfügt über die größte Theaterbühne der Welt mit einer Größe von ca. 2.200 Quadratmetern und die Sophiensäle befinden sich in einem ehemaligen Handwerkervereinshaus. Diese Beschreibung trägt nicht nur zum Theatervegnügen bei. Sie gibt den ZuschauerInnen auch einen besseren Eindruck davon, wie sich das Theater entwickelt hat und welche Art von Bühnenkunst an diesen Häusern entwickelt wurde und wird.

Fazit: Voraussetzungen für erfolgreiche Tastführungen

Das sind die wichtigsten Voraussetzungen für erfolgreiche Tastführungen:

  • Bühnenbegehung
  • Ertasten von Requisiten
  • Kennenlernen der Schauspielbesetzung
  • Hintergrundinfos zum Stück
  • Geschichte des Hauses

Jede Tastführung sollte diese Punkte berücksichtigen, um das Verständnis und Vergnügen des blinden und sehbehinderten Publikums zu garantieren. Jedes der am Projekt Berliner Spielplan Audiodeskription beteiligten Theater bietet im Vorfeld ihrer Stücke mit Audiodeskription eine Tastführung an. Besonders gelungen war die Tastführung am Berliner Ensemble. Doch auch im Friedrichstadt-Palast Berlin hat man sich viel Mühe gegeben und eigens einen der 60.000-€-teuren Hüte der VIVID Grand Show vorgeführt. Womit das Deutsche Theater Berlin, das Theater an der Parkaue und die Deutsche Oper Berlin aufwarten, erfahrt ihr in unserem Spielplan oder Ende November in unserem neuen Podcast. Um auf dem Laufenden zu bleiben, könnt ihr euch auch für unseren Newsletter anmelden. Viel Spaß bei der nächsten Tastführung!

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