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Die Insel der Zugänglichkeit

Posted in Theaterrezension

„Irgendwo, nicht weit von hier, gibt es eine Insel. Wir wissen es, denn wir haben sie erfunden. „Insel der Freude“ wird sie genannt und hier wollen wir uns treffen. Noone is an Island. Everyone is an Island.“ Eine verschollene Oper, eine blinde Komponistin, eine gesungene Audiodeskription, gepaart mit deutscher Gebärdensprache: Die Insel. „Die Insel“ ist eine musikalische Performance des künstlerischen Forschungsprojekts „[in]operabilities“. Auf der Bühne stehen die sehbehinderte Performerin Sophia Neises, die taube Schauspielerin Athena Lange, die Sängerin Marie Sophie Richter und der Composer-Performer Leo Hofmann im Berliner Radialsystem. Weitere Anziehungspunkte sind aber auch der Name Sophia Neises, die mich bereits vor einem halben Jahr mit ihrer Performance „With or without you“ mit künstlerischer Audiodeskription beeindruckt hat, sowie das Zusammenspiel zwischen tauben- und blindenfreundlicher Dramaturgie. Ich bin gespannt!

 

Wir kommen an

Das Radialsystem begrüßt uns mit einem, wahrscheinlich extra für diese Performance ausgelegten Leitsystem. Es fühlt sich an wie ein Kabel, das vom Eingang bis zum Saal führt. Eine halbe Stunde vor Beginn des Stücks werden wir eingelassen. Die Leitlinie setzt sich durch den ganzen Saal fort, sodass ich die einzelnen Stationen der Tastführung, die als Teil der Performance verstanden wird, erkunden kann. Die erste Station ist ein aus Pappe gefertigtes Modell des Raumes. Sogar die Leitlinie ist integriert. Das freut mich sehr, zeigt es doch, dass dieses Detail als genauso wichtig betrachtet wird wie die Bestuhlung und die Tribüne, die zu allen vier Seiten der Bühne aufgebaut sind. Etappen wie Musikinstrumente und Kostüme sind jeweils mit Glöckchen bzw. einem Stück Stoff (Tüll glaube ich) angedeutet. Die beiden tollsten Etappen sind aber die Instrumente und die Kostüme. Es gibt zwei Instrumente: ein Theremin (ein elektronisches Musikinstrument, das berührungslos gespielt werden kann) und ein Cello. Beide Instrumente sind verstärkt und sorgen beim Spielen dafür, dass die Tribünen mal mehr, mal weniger vibrieren. Ich beschließe, dass ich mich auch einfach eine Stunde hinsetzen und in meinem Stuhl vibrieren lassen könnte. Die Kostüme werden von Sophia vorgestellt. Besonders schön finde ich ein Jäckchen, in das Flaschendeckel aus Metall eingenäht wurden. Das nenne ich Upcycling! Die Tastführung endet damit, dass jeder eine taktile Landkarte bekommt, die durch das Stück leiten soll. Darauf ist eine Leitlinie genäht worden mit Etappen, die mit verschiedenen Stoffen hervorgehoben sind, darunter Sandpapier, Verlours- und Plastikaufkleber. Inwiefern diese Landkarte eine Rolle für die Performance spielt, bleibt mir jedoch bis zum Schluss unklar.

 

Die Performance beginnt

„Die Insel“ erzählt die Geschichte einer Prüfung. Rinaldo soll auf der Insel der Freude auf seine Treue getestet werden. Alcina ist eine zauberkundige Frau, die den Test vollzieht. Rinaldos Geliebte Bradamanta kümmert der Test herzlich wenig. Sie will ihren Geliebten zurückhaben und der Zauberer Astramont hilft ihr dabei. Das Ende ist, zumindest in dieser Version, offen. Soweit die Geschichte. Mir wird jedoch schnell klar, dass die Handlung eher Nebensache ist, denn was im Vordergrund steht, ist das Erforschen der Zugänglichkeit dieser Oper. Was die Performer*innen sich ausgedacht haben, um sowohl taube als auch blinde und sehende Menschen anzusprechen, ist faszinierend. Ein Sturm wird mit riesigen Fächern dargestellt. Blitze werden nicht nur gezeigt, sondern auch gesungen. Bei der Ankunft auf der Insel der Freude strömt ein frischer Duft durch den Raum. Ein*e Performer*in übernimmt immer die Beschreibung der Handlungen anderer. Manchmal beschreiben die Performer*innen ihre Handlungen aber auch selbst. Das wirkt mal mehr, mal weniger natürlich. Immer wieder lassen die Performer*innen den Saal mithilfe des Cellos oder des Theremins vibrieren, zum Beispiel, wenn es donnert oder sich die beiden Magier im Duell gegenüberstehen. In diesen Momenten höre ich um mich herum das eine oder andere vergnügte Seufzen. Auch der Gesang von Marie und Leo ist wunderschön und kommt meiner Meinung nach etwas zu kurz.

Spezialeffekte der Zugänglichkeit

Bei „With or without you“ habe ich mich noch oft gefragt, was gerade auf der Bühne passiert. „Die Insel“ hat mir mit all ihren special Effekts dazu keine Gelegenheit gegeben. Es gab so viele wundervolle Elemente für alle Sinne, dass ich sie unmöglich alle nennen kann. Als eine Performance, die die Oper auf die Frage ihrer Zugänglichkeit hin untersucht, funktioniert „Die Insel“ ausgezeichnet. Die Umsetzung war kreativ. Der Audiodeskription konnte ich gut folgen. Stellenweise hat sie mich aber auch an einem immersiven Erlebnis gehindert, zum Beispiel, wenn Rinaldo über Alcina sagt: „Du nimmst mich an der Hand.“ An diesem Stellen hätte ich mir eher eine als Dialog getarnte Beschreibung gewünscht. Ich hätte mir auch gewünscht, dass der Gesang noch mehr im Vordergrund steht, da ich zwischendurch vergesse, dass es um eine Oper geht. Die Charaktere haben keinerlei Tiefe. Sie gehen in den Special Effekts der Zugänglichkeiten unter, und das ist vielleicht auch so gewollt. Trotzdem kann ich mich natürlich mit Charakteren, in deren Gefühlsleben und Beziehungen ich beispielsweise durch Dialoge eingeführt werde, viel besser identifizieren. Dass die Opern-Performance abrupt mit der Mitteilung endet, dass Rinaldo weder ein Happy End, ein tragisches Ende oder die Hochzeit möchte, finde ich schade. Eben noch duellieren sich Astramont und Alcina, es wird auf das Heftigste gebärdet, beschrieben und vibriert, und im nächsten Moment ist einfach Schluss. Nachdem in der Einführung angekündigt wurde, dass die Oper kein Ende hat, sondern die Performer*innen danach nach Hause gehen und vielleicht ein Bad nehmen, habe ich zumindest auf eine Badewanne auf der Bühne gehofft.

Fazit

Alles in allem finde ich diese Performance im Hinblick auf ihre Zugänglichkeit und als Untersuchung der Frage nach der Zugänglichkeit von Opern spannend. Die Handlung gibt meiner Meinung nach nicht viel her und hätte auch gerne auf Kosten einiger Special Effekts ausgebaut werden können, aber dass dieses Konzept von vorne bis hinten inklusiv sein will, steht für mich außer Frage. Ich hoffe, dass sich einige Theaterschaffende diese Performance anschauen und sich für ihre eigenen Stücke inspirieren lassen. „[in]operabilities“ und alle Beteiligten haben an diesem Abend gezeigt, wie es gehen kann. Ich hoffe, dass die Berliner Theaterlandschaft bald schon ebenso haptisch, olfaktorisch und akustisch zugänglich ist wie „Die Insel“.

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