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Leonce und Lena am Deutschen Theater

Posted in Gastbeitrag, and Theaterrezension

Am Samstag, den 04. Februar 2023 besuchten Imke, Eva und ich eine Vorstellung von „Leonce und Lena“ im Deutschen Theater Berlin, die um 19.30 Uhr anfing. Wir saßen im großen Haus, Ellbogen an Ellbogen, so knapp nebeneinander, dass es eine wahre Herausforderung war, mit der Apple-Tastatur auf dem Schoß zu schreiben. Sich 150 Minuten lang nicht wirklich bewegen zu können!

Auf der Website des DT steht zum Inhalt des Stücks:

Kronprinz Leonce ist von seinem Dasein gelangweilt und frustriert. Die Aussicht auf ein Leben als König erscheint ihm ebenso wenig sinnstiftend wie eine Hochzeit mit Prinzessin Lena. Er flieht mit dem Müßiggänger Valerio nach Italien. Gleichermaßen sucht Lena nach Idealen, sträubt sich gegen diese arrangierte Verlobung und flüchtet in die Ferne. Ohne sich zu kennen, treffen die beiden aufeinander und verlieben sich Hals über Kopf. Als Automaten maskiert, werden sie anstelle der unauffindbaren Königskinder vermählt – um nach der Entpuppung festzustellen, dass sich eingelöst hat, wovor sie zu entkommen hofften.

https://www.deutschestheater.de/programm/spielplan/leonce-und-lena/6830/

Regie und Bühne führt Ulrich Rasche.

Off-beat

Vor Beginn werden uns Ohrenstöpsel verabreicht. Das will was heißen. Dieses Mal haben wir Dienstplätze und sitzen in Reihe 14. Hinter uns befinden sich die Tonkabine, deren offene Wand ich von meinem Sitzplatz aus anfassen kann, Tonpult mit Laptop und Arbeitslampen. Der „eiserne Vorhang“ als Abtrennung zwischen Bühne und Publikum ist zu. Lautsprecher sind links und rechts sichtbar; zwischen zwei mit Plexiglas umrandeten Flächen auf Parketthöhe sind die Musikinstrumente aufgestellt. Der Saal klingt voll und ist auch wirklich gut gefüllt. Bedeutungsvoll wird vor Vorstellungsbeginn von einem Saalwächter auf die Ohrenstöpsel geguckt und ein Handy in die Luft gestreckt. Na dann bin ich mal gespannt, ob es echt so laut zugehen wird. Die bekannte aufgenommene Ansage heißt uns herzlich willkommen.

Aus dem Blauen heraus

Die Bühne leuchtet blau auf, ein megagroßes Gitter baument von links oben nach rechts unten an der Decke. Leute sind zu sehen, ein Beat ist zu hören. Ein Sprechchor, rhythmisch, setzt ein: „Wie lauten die Verfassungen, was ist der Staat? […] Nichts als leeres Stroh, nichts als langsame Fuhrwerke, was sind unsere Wahlgesetze?“ Wir schmunzeln. Wird noch mehr Aktualitätsbezogenes folgen? Die Menschen auf der Bühne, es sind ungefähr zwölf, bewegen sich im Kreis; die Bühne dreht sich langsam in die entgegengesetzte Richtung der laufenden Menschen. Es wirkt mechanisch, wie fortgetrieben. Es dröhnt immer lauter.

Audiokraft

Die Aussagen wiederholen sich und ich denke jetzt schon: Audiodeskription brauchen wir nicht. Höchstens eine Einführung. Das Leuchtgitter, das das herabhängende Bühnenelement darstellt, leuchtet blau und weiß auf. Immerzu wird gesprochen. „Ihr seid rechtlos. Das Machwerk macht Gesetze, von denen es selbst nichts weiß.“ Schon ein thematisierender Anfang als der, den ich mir zuvor auf YouTube angehört habe, muss ich gestehen, vom Prinzen Leonce, der sich lange Minuten langweilt.

Leonce spricht: „Ihr [das Volk] seid bloß ein Glied dieses Leibes, rühret euch!“ Unsere Stühle vibrieren abundzu mit dem rhythmischen, tönenden Takt mit. Ein cooler Zusatzeffekt, meint Eva dazu später. „Der ganze Leib wird mit euch aufstehen, der Staat sind alle… Erkämpft die Freiheit, wer das Schwert des Volkes hebt, wird durch das Schwert umkommen.“ Jetzt leuchtet es knallrot. Die Drehbühne bewegt sich immerfort. Alle tragen Hoodies. Zwei Herren und eine Dame schauen ins Publikum. „Bin ich ein Müßiggänger?“, fragt sich der eine Herr. „Habe ich keine Beschäftigung? Das macht mich ganz melancholisch. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag.“ Die Dame sagt: „Das Volk aber legt vor ihnen [den arbeitenden Bauern] den Finger auf den Acker. Der Vornehme treibt den Bauern am Pflug von hinten an.“ Und der zweite Herr sagt: „Die Bienen sitzen so träg an den Blumen, der Sonnenschein liegt so faul auf dem Boden, es grassiert ein entsetzlicher Müßiggang.“ Oh je, wo habe ich das gleich wieder gelesen, formuliere ich.

„Das Individuum ist eine Drahtpuppe, der Vornehme zieht an den Fäden.“ Der Vater des Prinzen Leonce, König Alexander, wünscht sich mit beklommener Stimme das Gras zu sein, in dem er sich ausgestreckt hat, oder der Ochs, der das Gras frisst. „Der Boden hat noch keinen Tropfen von meiner Stirn getrunken, ich bin jungfräulich in der Arbeit.“ Ehrlich, ich hänge am Text. Wenn man lediglich das Buch liest! Würde Büchner dieser Tonsetzung, dieser Interpretation zustimmen? Die Musik soll live sein, kommt aber dermaßen mechanisch und elektronisch daher, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie vorn die Instrumentalisten spielen sollen. Mit computerprogrammierten Effekten wahrscheinlich. Der Inhalt wiederholt sich ständig in verschiedenen Sätzen, die Farben des Leuchtgitters ändern sich nach links und nach rechts. Ein interessanter Effekt, meint Imke neben mir.

Vielsagendes Nichts

Lena und Rosetta, die ursprüngliche Braut des Prinzen, begegnen sich. „Komm, liebe Langeweile“, schwelgt Lena, „deine Küsse sind wolllüstiges Gähnen. Liebst du mich, Langeweile?“ Ein Pärchen vor uns verlässt den Saal. Lena liebt die sterbende Liebe der Rosetta, nicht die werdende. Man sieht während der Klage den sich drehenden Kreis der Leute, das Gitter, das nach links einen anderen Effekt erzeugt als nach rechts… Verstehe ich es noch? Der König ist plötzlich allein auf der Bühne. „Die Leute müssen denken, ich bin die Substanz“, spricht er. Prinz Leonce kommt mit seinem Freund Valerio herein. Die gesprochenen Halb-Monologe gehen immer weiter. Die Musik verändert sich scheinbar minimal, ohne minimalistisch zu wirken. Prinz Leonce flieht vor seinem vorgegebenen Schicksal nach Italien. Er beklagt sich gegenüber Valerio über die anstehende Heirat. „Die Zeit an Nichts ist vorbei“, seufzt pathetisch die Lena; sie hat sogar einen Rock an. Und es gibt Nebel auf der Bühne. Bedeutet das eine Veränderung? Lena lamentiert theatralisch: „Dass wir uns selbst erlösen müssen, die Welt sei ein gekreuzigter Heiland, die Sonne eine Dornenkrone, die Sterne die Nägel in Füßen und Händen.“

Das wackere und das wankende Element

Die Tongewalt ist mächtig. Ich bewege mich absichtlich auf meinem Platz, denn durch den unabwendbaren Lärm nahezu überwältigt, verliere ich fast meinen Wachzustand. Valerio trägt Leonce huckepack. Ach so, das schwächere Element trägt das stärkere, erinnere ich mich. „Köstlich geistlos ist die Schönheit. Sind wir nicht im ewigen Kerker geboren?“ Lena ist in der Nähe von Leonce. Die Menschen sind teils mit nacktem Oberkörper, auch die Prinzessin, alle barfuß. „Ich habe keine Harmonie für Seligkeit. Dies Stummsein ist meine Verdammnis“, spricht sie. Moderne klassische Gitarre hat der Komponist dieser Klangkulisse studiert. Im selben Rhythmus dröhnt sie fort. Die gespielten Schichten der Vornehmen und des Volkes stecken in ihrer Langeweile fest. Eine ganze Reihe Besucher verlässt den Saal.

Prinzessin Lena ist entzückt vom roten Schein auf dem Boden. Prinzipiell herrscht Schwarz, sagt Imke neben mir. Lena trägt ein fleischfarbenes Bustier, Valerio und Leonce tragen weiße T-Shirts. Ihnen ist indes ganz behaglich; sie ergötzen sich an Bildern, mit denen sie die Langeweile vertreiben. Gott und Teufel spielen Tischtennis miteinander.

Wieder pathetisch spricht der Prinz: „Unser Leben ist ein schleichendes Fieber, die Totenuhr tickt in unserer Brust. Vor unseren müden Augen jedes Licht zu scharf. Murmelnd wird jetzt gesprochen und Leonce und Lena scheinen sich gegenseitig zu hören. Die Musik bekommt einen Kirchenglockenhauch. „Wir haben keinen Hass, keine Liebe, keine Hoffnung, eine schreckliche Leere, eine folternde Unruhe, diese Leere aufzufüllen“, spricht der Sprechchor, der das Volk darstellt. Ich verstehe die allein sprechende Lena nicht immer – es kann Konzentrationsschwäche sein. Leonce kommt zu ihr, wie sie vorn steht. Lena spricht von einem Totenengel, der das schlafende Kind, das sie vor sich glaubt, wohl ist. Ich verstehe den Zusammenhang nicht mehr und fühle, wie Imke ihre Schultern zuckt. „Ich möchte auf dem Friedhof liegen wie ein Kindlein in der Wiege“, hat Lena vorhin gesagt. „Der Tod ist der seligste Traum“, meint Lena, als einzige Möglichkeit, dem Schicksal zu entrinnen. Leonce bietet Lena an, ihr Traum zu sein. Ein schönes Bild, freut sich Imke. Leonce steht hinter Lena, ist einen Kopf größer als sie. Die Klangfrequenzen ähneln den kosmischen Frequenzen, die vor Jahren einmal aufgenommen wurden, nur drei Oktaven tiefer. Aber romantischer wird es nicht. Im Gegenteil – die Musik klingt wie Betonpfeiler, die in den Boden gestampft werden.

Alles Sklaven

Die Menschen scheinen alle nackt. Sklaven von früher? Der Rhythmus paukt so sehr, dass es mich beinahe schmerzt. „Ich habe Revolutionsgeschichte studiert und erlebe Fatalismus“, lamentiert Leonce, und Lena antwortet: „Mir ist die Seele genommen. Ich bin ein Automat.“ Ein Ton intensiviert sich. Das maskierte Paar wird vermählt. Die Begleitmusik ist unerwartet leise geworden und ähnelt dem Intro der Tagesschau. Kaum voneinander zu unterscheiden sind die Menschen und gebunden an Zeit und Struktur, verurteilt zum Mechanismus, auch zum vorgeschriebenen Mechanismus der Liebe. Das prinzliche Paar, neben dem König, versteht, wie es trotz Flucht vor der Hochzeit hereingefallen ist. „Der Mensch muss denken“, sagt der König.

Zum Schluss fordert das Volk, also die Gruppe im Sprechchor: „Alle Kalender verbieten, alle Uhren zerschlagen, keine Saisonen mehr, wir werden Staatsminister.“ Es kommen sich ändernde, grelle Faren aus dem Leuchtgitter. „Nur die Blumenuhr zählt. Wir legen uns in den Schatten und bitten um Melonen und Feigen.“ Das Paradies? Der Vorhang aus Eisen fällt. Es wird applaudiert. Eva, Imke und ich sind uns einig: Es wäre fast kontraproduktiv, dieses Stück mit Audiodeskription zu versehen.

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