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„Wo seid ihr? – Wir machen Werbung für ein blindes und sehbehindertes Theaterpublikum“

Posted in Gastbeitrag, and Veranstaltungsbericht

Gastbeitrag von Eberhard Dietrich von Ohrsicht Radio.

Diese Frage stand am 29. März 2023 von 12 bis 17.30 Uhr im Raum „La Diva“ im Friedrichstadt-Palast im Mittelpunkt. Antworten wurden von den 30 Teilnehmer*innen aus der Blinden- und Sehbehindertenhilfe und -Selbsthilfe, von Berliner Bühnen und Kultureinrichtungen, aber auch von Marketingverantwortlichen gesucht, diskutiert und mindestens auch teilweise gefunden.

Moderiert wurde die Veranstaltunge von Monika Seeling-Entrich vom Theaterbeirat des BSA und Anke Nicolai, der langjährigen Chefin der Firma Nicolai Audiodeskription.

Der Workshop „Wo seid ihr?“ war die dritte und vorerst letzte Veranstaltung des Berliner Theaterbeirats, da das Projekt offiziell wohl Ende Mai endet. Doch der Reihe nach: Der Theaterbeirat des Berliner Spielplan Audiodeskription wurde im Juni 2022 gegründet. Die Idee kam von Förderband e.V. (Imke Baumann). Der Theaterbeirat hat aktuell zwölf blinde bzw. sehbehinderte ehrenamtlich tätige Mitglieder. Sie treffen sich einmal im Monat, entweder live an einem der Partnerhäuser des BSA oder per Zoom. Dort wird auch über Theaterstücke und -besuche gesprochen. Die Aufgaben des Theaterbeirats ist vor allem die Durchführung von Veranstaltungen mit und für Theater mit dem Ziel der Publikumsgewinnung. Da gab es im Oktober 2022 einen Workshop zum barrierefreien Internet, im Februar 2023 die Theaterwoche mit dem Blindenhilfswerk Berlin e.V. und den Workshop zum Thema „Werbung“.

Ansonsten wird der Beirat zunehmend in die Stückauswahl für den Berliner Spielplan Audiodeskription miteinbezogen und es gibt Beratungen von Veranstaltungsorten und bei der AD-Erstellung, bei Tastführungen usw. Ob das Gremium über den 31. Mai hinaus bestehen bleiben wird, war zum Zeitpunkt dieser Berichterstattung noch nicht entschieden.

Wo seid ihr?

Dem Theaterbeirat war immer wieder aufgefallen, dass Theaterangebote mit Audiodeskription von vergleichsweise wenigen besucht werden bzw. dass immer derselbe begrenzte kleine Publikumsstamm die Angebote wahrnimmt. Daher hatte er das Bedürfnis nachzuforschen, woran das liegt und was getan werden kann, um mehr Menschen und neue Publikumsgruppen ins Theater zu locken. So ergab sich das Hauptthemenfeld des Workshops: Welches sind geeignete Werbe- und Kommunikationsmaßnahmen sowie die Frage, was es in der Gestaltung der Veranstaltungen sonst noch braucht, damit die Angebote für die Zielgruppe attraktiver werden. In Expert*innen-Interviews und abschließenden Kleingruppengesprächen wurde ausgelotet, was bereits gelingt und was noch schwierig ist.

Paloma Rändel vom ABSV berichtete beispielsweise…

… Es gibt im ABSV den Arbeitskreis „Kultur und Freizeit“, der sich um Barrierefreiheit für Kultureinrichtungen kümmert. Dies waren bisher meistens Museen. Es gibt einen Kulturkalender auf der Website des Vereins, in den auch die Veranstaltungen des Berliner Spielplan Audiodeskription eingetragen werden. Außerdem gibt der ABSV eine monatliche Mitgliederzeitschrift heraus, in der Kulturtermine bis zum 10. des Folgemonats veröffentlicht werden. Der ABSV verschickt einen E-Mail-Newsletter an über 1.000 Kontaktadressen. Der ABSV selbst hat ca. 2.500 Mitglieder – das sind knapp über 10% der Zielgruppe in Berlin.

Im Interview 2 berichtete Felix Högl (DBSV)…

… über die Seite hoerfilm.info. Ziel der Website war es zunächst, Filmangebote mit AD zentral auf einer Plattform zu bündeln (erst Fernsehen, dann Kino, dann Streaming). Jetzt gibt es als neue Kategorie „audiodeskribierte Theatervorstellungen“. Der Name „Hörfilm“ lebt allerdings nicht nahe, dass auch Theaterangebote veröffentlicht werden. Eine Umbenennung ist kurzfristig aber nicht möglich, weil Änderungen von Domainnamen schwierig sind.

Nun hatten wir ja erst am Mittag begonnen, lagen noch gut im Zeitplan und konnten so danach erst einmal planvoll pausieren und uns um das Brötchen-, Kuchen-, Obst- und Gemüsebufett kümmern. Wer den Mund nicht zu voll nahm, konnte hierbei allerdings auch den Infoaustausch rege weiterbetreiben. Ich für meinen Teil konzentrierte mich auf Brötchen, Obst und Kaffee und dachte nur: „Wie bekomme ich die Infofülle nur in einen kurzen Blogbeitrag und wo ist die beste Gelegenheit für ein zusammenfassendes Radio-Interview im Anschluss?“

Weiter ging es mit Interview 3: Imke Baumann und Eva-Katherina Jost (Berliner Spielplan Audiodeskription)

Imke Baumann hat das Berliner Projekt zu AD an den Theatern auf die Beine gestellt und engagiert sich seit Jahren erfolgreich. Ihr bisheriges Fazit lautet: Es gibt inzwischen ein kleines Stammpublikum, aber es dürfte gern mehr sein – daher die Idee zum Theaterbeirat.

Bei den meisten Stücken ist der Bedarf mit drei bis vier AD-Vorstellungen gedeckt. Manchmal gibt es aber auch Renner, die noch in der achten AD-Vorstellung gut besucht sind (zum Beispiel „Die Dreigroschenoper“ am Berliner Ensemble).

Eva ergänzt: Die Zielgruppe umfasst alle Altersklassen. Viele sind eher älter, aber es gibt auch eine Kooperation mit dem Theater an der Parkaue, um auch Angebote für Kinder und Jugendliche zu haben.

Kleine Hintergrund-Info: In Deutschland gibt es ca. 150.000 blinde und 500.000 sehbehinderte Menschen. Für Oper bzw. Theater interessieren sich im Durchschnitt 8 – 10% der Bevölkerung, das heißt der Einzugskreis für die AD-Angebote muss entsprechend heruntergerechnet werden.

Beim Interview 4: Bettina Quäschning und Mareike Methner (Berlin Tourismus & Kongress GmbH / visitBerlin) hatte ich auf jeden Fall…

… instinktiv großes Aktionspotential vermutet und ja, vielleicht geht da ja wirklich noch so einiges…

Denn es gibt 6 – 8 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland. Ziel von visitBerlin ist es, Angebote für alle zu machen; bisher gab es hauptsächlich Angebote für Rollstuhlnutzer*innen. Zunehmend, jedoch noch langsam, wird der Fokus auf blinde und sehbehinderte Menschen gerichtet. Das ist aber noch ausbaufähig.

Konkrete Angebote von visitBerlin für blinde und sehbehinderte Menschen sind beispielsweise:

  • Postkarte mit Punktschrift (nicht falsch, aber kann nur ein kleiner Teil der Betroffenen, ca. 10%, lesen!)
  • Podcast: Betroffene in Interviews (vielleicht hilfreich?)
  • Veröffentlichung von Angeboten auf der eigenen Website (nicht zu vernachlässigen!)
  • Kooperation mit dem Berliner Spielplan Audiodeskription (na klar!)

Und vielversprechend ist vielleicht die Zusammenarbeit mit der Technologiestiftung. Sie arbeitet seit anderthalb Jahren an einer Berliner Event-Datenbank, bei der jede Institution ihre Veranstaltung selbst einpflegt und visitBerlin pflegt sie in den eigenen Veranstaltungskalender ein. Die Datenbank soll idealerweise mit den Special Olympic World Games im Juni 2023 an den Start gehen. (Mal schauen, ob das klappt!?)

Nach erneuter kurzer Kaffee-, Tee-, Wasser- und Saftpause ging es mit

Elfi Schwab vom Blindenhilfswerk Berlin e.V.

unvermindert weiter. Sie sprach u. a. von konkreten Unterstützungsmöglichkeiten des BHW. Beispielsweise Informationen zu Theaterangeboten an alle, die auf dem Gelände wohnen als Brief oder Mail, aber auch in persönlicher Ansprache, denn die Mitarbeitenden kennen die individuellen Interessen der Mieter*innen.

Das BHW führt Themenwochen in Kooperation mit externen Partnern durch. Es gab bereits eine Themenwoche „Theater, Theater“ in Kooperation mit dem Theaterbeirat des BSA mit einer Führung durch die Volksbühne, einem Vorstellungsbesuch mit AD von „ARISE“ im Friedrichstadt-Palast und einem Theaterworkshop auf dem Gelände in Steglitz.

Begleitbedarf besteht oft von Tür zu Tür und über die ganze Zeit. Das BHW hat zwar ehrenamtliche Mitarbeitende, die helfen können. Allerdings sind diese gerade am Wochenende oft überlastet.

Dann das Interview 6 mit Andreas Krüger…

… Referent für Barrierefreiheit und Inklusion an der Berlinischen Galerie. Andreas Krüger ist sehbehindert und damit sowohl Referent als auch selbst Rezipient und Kulturteilnehmer. Krüger begrüßt es, spartenübergreifend zu arbeiten, er organisiert barrierefreie Vermittlungsprogramme und Mitarbeiter*innen-Sensibilisierungen, den Austausch mit anderen Einrichtungen für das gemeinsame Ziel aller Museen: inklusiver zu werden.

Er empfiehlt einen ganzheitlichen Ansatz: Nur ein Tastführungsangebot reicht nicht; man muss aus der Perspektive der Betroffenen denken. Den Besuch von der Haustür an denken, Werbung, Hinkommen, sich vor Ort wohlfühlen etc. Seit 2017 gibt es in der Berlinischen Galerie ein ganzheitliches inklusives Erlebnis, das ständig weiterentwickelt wird.

Es gibt allerdings durchaus auch Herausforderungen im Museum: Die Gestaltung mit „Störfaktoren“ war ein Novum und die größte Herausforderung für die Museen. Ein Tastmodell wird erst einmal als Eingriff ins künstlerische Erleben empfunden. Leitmaßnahmen werden als störend für das Raumerlebnis angesehen. In der Zusammenarbeit gilt es, die konservatorischen und inhaltlichen Belange des Museums zu berücksichtigen und gemeinsame Kompromisse zu schaffen.

Im Interview 7 kam der Theaterbeirat…

… vertreten durch Manuela Myszka und Ugne Metzner selbst direkt zu Wort. Ihr Eindruck von der Publikumssituation ist: Es ist ein kleiner Kreis, der ins Theater kommt. Das ist aber adäquat zum gesellschaftlichen Querschnitt und entspricht möglicherweise dem allgemeinen prozentualen Anteil der potentiellen Theatergänger*innen.

Hilfreich ist das Angebot von kostenlosen Begleitkarten. Ebenfalls hilfreich ist die Möglichkeit, sich inhaltlich vorbereiten zu können, da man nicht wie sehendes Publikum kurz vorher einfach durchs Programmheft blättern kann. Gute Maßnahmen wären zum Beispiel, ein barrierefreies Programmheft vorab auf der Website zu hinterlegen und Audioeinführungen vorab auf der Website zugänglich zu machen. [Anmerkung: Die audiodeskriptiven Einführungen zu all unseren Stücken sind vorab nicht nur auf unserem Spielplan, sondern auch auf unserem Podcast-Kanal abrufbar. /ej] Am Aufführungsabend selbst ist die Informationsflut oft zu groß. Bei der Orientierung im Haus ist hilfsbereites Personal wichtig.

Dann ging es ins Finale…

… mit der abschließenden Gruppenarbeit zum Thema „Nächste Schritte / Visionen / Ideen“.

Hier nur einige der zahlreichen Ergebnisse:

  1. Netzwerk
    Arbeitsgruppe „AD für Berlin“ gründen, um Ergebnisse des Workshops umzusetzen
    visitBerlin in Verantwortung nehmen: Schnittstelle mit Berlin Bühnen und hoerfilm.info schaffen
  2. Werbung
    mehr über die Sehenden werben
    nicht nur den Kultur-, sondern auch den Lokalteil in der Pressearbeit bespielen
    AD-Angebote über Besucherorganisationen (Theatergemeinde, übergreifende Abos etc.) streuen und in deren Vorstellungsübersicht integrieren
  3. Infos über AD
    Audiodeskription für alle sichtbar machen, überall verbreiten und erklären – zum Beispiel in Social Media Ausschnitte aus AD-Stücken platzieren
  4. Barrieren abbauen
    Websites für blinde und sehbehinderte User*innen zugänglich machen
    in den Häusern Barrieren reduzieren: einfache Maßnahmen reichen oft, z. B. Saalstufen markieren, Sitzplatznummerierung austauschen
  5. Begleitung durch ehrenamtliche Begleiter*innen
    Kooperation mit Kulturbus
    den Senat ansprechen zur Finanzierung eines Kulturbusses (oder Ausweitung der Nutzung des bestehenden) für blinde und sehbehinderte Menschen

Gegen 17.30 Uhr bedankten sich die Moderatorinnen Anke Nicolai und Monika Seeling-Entrich bei allen Teilnehmer*innen für ihre intensive Teilnahme bei der Ideensuche und -findung. Mit dem Gefühl, das sollte unbedingt ein Nachspiel haben, ging man, jeder und jede mit seiner/ihrer ganz individuellen Fahrgemeinschaft oder eben auch als Solist ab und davon. Ich durfte noch ein Kurzinterview mit Imke Baumann für die Ohrsicht-Radiosendung „PopUp“ des nächsten Tages einfangen und dann auch zur S1 Richtung Studio entweichen.

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