„Ich glaube fest, wir alle sind Gespenster. Nicht nur das, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, spukt in uns herum. Auch alle möglichen mausetoten Anschauungen, Meinungen, alter Aberglaube und so weiter. Es lebt nicht in uns, aber es steckt doch in uns, und wir werden es nicht los. Das ganze Land muss voll sein von Gespenstern!“
Henrik Ibsen
Wer sich jemals darüber geärgert hat, den einen oder anderen Splien von seinen Eltern geerbt zu haben, wird nach dem Genuss von Henrik Ibsens „Gespenster“ am Berliner Ensemble froh sein, dass es sich nur um die Angewohnheit handelt, zu besorgt zu sein, Salz über die Schulter zu werfen und auf keinen Fall andere Boulettenrezepte zu akzeptieren. Die Gespenster, die das Haus der Alvings plagen, sind düsterer und springen auf die neue Generation über, egal wie sehr die alte Frau Alving auch versucht, sie von ihrem einzigen Sohn fernzuhalten. Ein gespenstisch tiefgreifendes Stück, das für mich besonders durch die Stimmen der Schauspielerinnen und Schauspieler und die der Audiodeskriptorin Jutta Polic besticht.
Mir fehlt die Tastführung
Ich kann mich an meine erste Vorstellung mit Audiodeskription am Berliner Ensemble erinnern. Als sie 2019 „Othello“ spielten, gab es eine wunderbar ausführliche Tastführung, in der die Geschichte des Hauses und seine Architektur vorgestellt wurden, die zugegebenermaßen spärliche Bühne betreten und die Kostüme befühlt werden konnten. Sogar ein Repräsentant des Chors hat an dem Spektakel teilgenommen. Diesmal gibt es auch eine Einführung. Die wird allerdings von Jutta ausschließlich verbal vermittelt. Sie liest die Einleitung zum Stück vor, beschreibt die SchauspielerInnen und Schauspieler und deren Kostüme, die Bühne und die Architektur des Theatersaals. In fast zwanzig Minuten bekomme ich Informationen, von denen die meisten sich leider ebenso schnell wieder verflüchtigen. Ich kann nicht oft genug betonen, wie wertvoll es ist, etwas in der Hand zu halten. Das gilt vor allem für das Bühnenbild. Jutta beschreibt drei Boxen, die etwa so hoch sind, wie die Decken einer Altbauwohnung. Sie stehen nebeneinander, beinhalten Möbel und können hin- und hergeschoben werden, sodass sie einmal verschiedene Räume, ein anderes Mal Teile des gleichen Raumes bilden. Wie diese Boxen aussehen, kann ich mir schwer vorstellen. Ich denke zunächst an einen viereckigen Kasten mit vier Wänden. Anscheinend haben die Boxen jedoch nur eine Decke und einen Boden und werden ansonsten in der Mitte von einer Art Balken gehalten. Die letzte Information bekomme ich von meiner Begleitung. Ein so aufwendiges Bühnenbild und noch dazu eines, das für das Verständnis des Stücks derart wichtig ist, hätte meiner Meinung nach zumindest eine Tastführung mit Handschuhen oder ein haptisches Modell gebraucht. Die Idee, die SchauspielerInnen und Schauspieler in verschiedene Räume zu platzieren, um die soziale Distanz unserer Tage sowie die Einsamkeit der Figuren anzudeuten, finde ich grandios.
Gespenster der Vergangenheit
„Gespenster“ dreht sich um das so lange gehütete Geheimnis der alten Frau Alving. Bis ins hohe Alter hat sie ihrem Sohn verschwiegen, weshalb sie nach einem Jahr Ehe ihren Mann verlassen wollte, warum sie in mit sieben Jahren woanders aufwachsen ließ und warum ein Dienstmädchen des Hauses verwiesen und schnell mit einem Tischler verheiratet werden musste. Frau Alvings Mann war der Grund. Nun holen die Gespenster der Vergangenheit sie allerdings ein, gerade als ihr Sohn Osvald endlich wieder nach Hause gekommen ist. Dieser verliebt sich in das Dienstmädchen Regine. Dass es sich wegen der außerehelichen Vergnügungen des verstorbenen Herr Alvings um Osvalds Halbschwester handelt, weiß nur Frau Alving.
Ich schwärme für die Stimmen
Es gibt so einiges, was mich an dieser Inszenierung fasziniert und zum Nachdenken anregt. Als erstes die düstere Bühne und der andauernde Hinweis von Osvald, wie kalt und dunkel es im Haus ist, obwohl es Tag ist. Allein das lässt das Haus für mich gespenstisch wirken. Dazu kommen die Figuren, die sich oft im gleichen Raum und durch die Boxen dennoch in beträchtlichem Abstand zu befinden scheinen.
Nichts übertrifft an diesem Abend jedoch die Stimmen der Schauspielerinnen und Schauspieler. Ich hätte ihnen auch gut und gerne ohne Beschreibung zugehört. Besonders Corinna Kirchhoff als Frau Alving und Wolfgang Michael als Tischler Engstrand gefallen mir stimmlich gut.
Zu Beginn wundere ich mich über die detaillierte Beschreibung der Kostüme bis hin zur Unterwäsche der Figuren. Ich denke zuerst, dass das Audiodeskriptorinnentean ein wenig zu viel Wert aufs Detail gelegt hat. Wie sich aber zeigt, sind alle Figuren im Laufe des Stücks in Unterwäsche zu sehen. Beeindruckend ist diese Verwandlung bei Frau Alving. Vollständig angezogen wirkt sie zugeschnürt von ihren hochgesteckten Haaren bis zum Rock und Korsett. Ohne ihre Oberbekleidung wirkt sie auch geistig verletzlicher und so aufgelöst wie ihre langen grauen Haare.
Noch eine Stimme
Eine Stimme, die mir immer gut und bei jedem Mal Hören besser gefällt, ist die von Jutta Polic. Sanft, zurückhaltend und harmonisch passt sie sich vollkommen unaufdringlich in jedes Stück ein, das ich bis jetzt mit ihr gehört habe. Die Beschreibung von „Die Gespenster“ ist an sich verständlich und wohl aufgrund der fast ununterbrochenen Dialoge sparsam gehalten. Bis auf den haptischen Eindruck des Bühnenbilds habe ich nicht das Gefühl, etwas zu verpassen. Anmerken möchte ich nur, dass zu Beginn der Einführung die S-Laute unangenehm präsent sind und dass ich während der Vorstellung die Atemzüge ebenfalls als störend empfinde. Die Beschreibung leitet mich ansonsten gut durch die Handlung. Ich habe nur an einigen Stellen das Gefühl, dass entweder die Beschreiberin das Stück zum ersten Mal beschreibt oder die Gesten der Schauspielerinnen und Schauspieler sehr improvisiert sind. Das liegt daran, dass Jutta immer wieder Sätze abbrechen und sich korrigieren muss.
Alles in allem kann ich verstehen, warum das Stück für das Publikum des 19. Jahrhunderts skandalös war. Vor allem die Figur der Frau Alving mutet sehr modern an. Ich muss zugeben, ich hätte das Stück allein ihretwegen erleben wollen. Wer sich für Gespenster interessiert, kommt an diesem Stück nicht vorbei.
Wer sich für Henrik Ibsen interessiert, kann auch meinen Blogbeitrag zu „Peer Gynt“ am Schauspiel Leipzig lesen.
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