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„Woyzeck Interrupted“: digital oder analog

Posted in Theaterrezension

Theater muss live sein! In Lockdown-Zeiten höre ich diese Aussage immer wieder. Theater digital? Sehr gerne, aber nur als vorübergehende Alternative, als Extraangebot neben dem Theatererlebnis vor Ort. Durch die vielen Streams von Theaterstücken in den vergangenen zwei Jahren, einige davon mit Audiodeskription, bekomme ich die Möglichkeit, den Stream eines Theaterstücks mit seiner Vorstellung live vor Ort zu vergleichen. Es ist ein Sonntagabend im Deutschen Theater Berlin. Gezeigt wird „Woyzeck Interrupted“, das im März 2020 zuerst als Stream mit Audiodeskription bereitgestellt wurde. Welche Unterschiede es zwischen den beiden Versionen gibt und ob die Live-Variante tatsächlich so viel besser ist als der Stream, werde ich mir anschauen.

Ich bin nicht alleine

Der größte Unterschied zwischen dem Stream und der Live-Performance ist das Setting. Vor einem Jahr saß ich vor meinem Computer und habe eine aufgenommene Version mit akzeptablen, aber nicht hervorragenden Lautsprechern gehört. Jetzt sitze ich in einem Theatersaal mit anderen Menschen, vor mir überraschend viel Beinfreiheit und um mich herum Gespräche. Das Getuschel lenkt mich von der auditiven Einführung in das Stück ab, vermittelt mir aber gleichzeitig: Ich bin nicht alleine. Da während des Stücks auch immer mal wieder jemand laut hustet, vergesse ich diese Tatsache auch nicht.

Das Bühnengeschehen ist im Theater unausweichlich

Neben der Präsenz des Publikums ist auch die Gegenwart der Schauspielerin und des Schauspielers, die Woyzeck und Marie verkörpern, viel klarer als im Stream. Ich höre die beiden sowohl sprechen als auch manchmal über die Bühne gehen, obwohl die meisten ihrer Interaktionen im Sitzen stattfinden und deshalb nicht hörbar sind. Woyzeck ist leider an einigen Stellen, besonders aber in der Anfangsszene, schwierig zu verstehen. Er klingt gedämpft, was mir im Stream nicht aufgefallen ist. Auf der anderen Seite wirken die Auseinandersetzungen der beiden Charaktere wesentlich intensiver, wenn ich sie live mitbekomme. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich vor meinem Computer auch so unbehaglich in den Stuhl gesunken bin, als Woyzecks passiv-aggressive Stimme sich immer wieder zu einem Schrei steigert. Die Gewalt, die er auf Marie ausübt, erscheint mir durch die Nähe zur Bühne und durch den meine Bewegungen einschränkenden Klappsitz, unausweichlich. Ich empfinde die Aggression zwischen den beiden als so unbehaglich, als würde ich meine Nachbarn in der nächsten Wohnung streiten hören und mich fragen, ob ich die Polizei rufen soll oder nicht. Dieses Gefühl hat mir der Stream nicht vermitteln können.

Freude über Zigarettenrauch

Im Stream wie in der Live-Vorstellung arbeitet „Woyzeck Interrupted“ mit Video-Überblendungen. In den meisten Fällen kann ich mir diese Video-Sequenzen im Stream ebenso wenig vorstellen wie analog. Mehrere sehende Zuschauerinnen und Zuschauer versichern mir, dass die Video-Einspielungen wunderbar gemacht wurden. Das einzige Mal, dass das Video jedoch bei mir auf Interesse stößt, ist, als Marie als gespenstische Projektion auf Woyzeck zutritt. 

Analog und digital fehlt mir die Tastführung. Ohne eine haptische Ergänzung der Bühnenbeschreibung gehen Einzelheiten der Requisiten und des Bühnenbildes im Gemurmel des Publikums unter. Es gibt jedoch ein olfaktorisches Moment, das der Stream nicht zeigen konnte. Als Woyzeck und Marie gegen Ende des Stücks auf dem Dach des Hauses stehen und die letzte Zigarette rauchen, kann ich den Rauch bis hin zu mir riechen. Dass ein Stück, wenn auch nur kurz, mehrere Sinne anspricht, kommt selten vor. Deshalb freue ich mich zur Abwechslung mal über Zigarettenrauch.

Audiodeskription live oder aufgenommen?

Die Audiodeskription wird an diesem Abend von Charlotte Miggel eingesprochen anstatt von Nadja Schulz-Berlinghoff. Abgesehen von seltenen Versprechern hat mir die Audiodeskription von Charlotte ebenso gut gefallen wie die von Nadja, vielleicht sogar noch mehr, weil Charlotte live beschreibt und dadurch lebhafter klingt als eine aufgenommene Version.

Häusliche Gewalt muss Unbehagen bereiten

In diesem Fall hat mir die Live-Vorstellung besser gefallen als der Stream, obwohl der Stream leichter verständlich war. Meiner Meinung nach muss ein Thema wie häusliche Gewalt Unbehagen bereiten. Dieses Unbehagen wurde durch die Aufnahme geschmälert. Live vor Ort kann mich das Stück konfrontieren mit den Emotionen der Figuren, mit der Ausweglosigkeit von Marie, die ebenso wenig die Wohnung verlassen kann wie ich meinen Sitz, mit der Frage, was das Publikum um mich herum denkt. Auf diese Weise erreicht das Live-Erlebnis eine Nähe, an die ein aufgenommenes Stück nicht herankommt.

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Wenn ihr mehr über das Stück wissen wollt, lest meinen Blogpost zu „Woyzeck Interrupted“ und das Interview mit der Dramaturgin Sima Djabar Zadegan.

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