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„Baby Choir“: Audiodeskription im Entstehungsprozess einer Performance

Posted in Theaterrezension

Ich schwanke zwischen Ekel und Faszination. Nach fast zwei Jahren bin ich einmal wieder live in den Sophiensälen. Ich schaue mir die Performance „Baby choir“ von Suvi Kemppainen und Josefine Mühle an. Das Besondere an dieser Performance ist, dass die Audiodeskriptor*innen Pernille Sonne und Emmilou Rößling am Entstehungsprozess der Performance teilhaben. Sie lernen also das Stück früh kennen und können ihre Beschreibung mit Hintergrundwissen bereichern.

Nur eine verrottende Blume? Da bin ich aber beruhigt!

Während andernorts Tastführungen coronabedingt ausfallen müssen, darf ich unter Einhaltung von 2G und mindestens „Vier ++“ Kostüme, Bühne und die vorhandenen Requisiten haptisch in Augenschein nehmen. Der Bühnenraum ist relativ leer – ein auberginefarbener Vorhang mit gleichmäßigen Falten im Hintergrund, weißer Fußboden im ganzen Raum und rechts auf dem Tanzboden ein rechteckiger Hügel mit Kunstgras überzogen. Weitaus spannender und ekliger ist der Zuschauerraum. Um die Hygienemaßnahmen einzuhalten, sind in mehreren Reihen Bänke aufgestellt, die mal den Abstand mit Kunstgras, mal mit Exponaten wahren. In einigen Vitrinen gibt es verrottendes Gemüse und schimmliges Obst, auf dessen nähere Bekanntschaft ich gut verzichten kann. Beete mit verwelkten, vertrockneten und sogar eines mit lebenden Sträuchern sind hier und da fühlbar. Mein Enthusiasmus für die Ausstellung nimmt erheblich ab, als ich an einem Stapel Holz entlangfahre und in etwas Nasses fasse. Nur eine verrottende Blume? Da bin ich aber beruhigt!

Die Performer*innen tragen Schweinehäute

Die drei Performer*innen tragen mit Silikon behandelte Oberteile, die nach Angaben von Emmilou nass glänzen. Vom Gefühl her erinnert mich das Oberteil an klebrige Haut und mit der Vorstellung, die Performer*innen tragen Schweinehäute oder Schlimmeres, reiche ich das Kostüm zurück. Ebenfalls während der Tastführung erzählen Suvy, Xenia und Josephine, wie sie aussehen und was sie, außer der Schweinehaut sonst noch tragen. Nicht viel, wie sich herausstellt. Turnschuhe und knappe Hosen – das war’s. Sie beschreiben ihre Bewegungen als schlängelnd, brüchig, Boney und flirtend. Das Flirtende taucht später in der Audiodeskription wieder auf. Anstatt schlängelnd benutzt Emmilou aber das Wort „wurmen“. Ich hätte mir gerne tastend ein eigenes Bild gemacht. Vielleicht könnte man für das nächste Mal Handschuhe in Erwägung ziehen, um einige Bewegungen nachzuvollziehen.

Es krabbelt und kriecht

In „Baby Choir“ krabbeln und kriechen drei Performer*innen über den Tanzboden. Der Vorhang dient als eine Art Geburtskanal, durch den sich erst Xenia, dann Josephine und schließlich Suvy schiebt. Von der Beschreibung ihrer Bewegungen her als „wurmend“ bekomme ich erst einmal nicht den Eindruck von Babys, sondern von unförmigen Wesen, die noch nicht gelernt haben, ihre Arme zu benutzen. Das ändert sich im Laufe der Performance. Die „Babys“ machen quengelnde und begeisterte Ausrufe, sabbern, knabbern an sich selbst und aneinander, kriechen übereinander hinweg, reiben sich an dem Grashügeln und lutschen an den Daumen. Sie entdecken ihre eigenen Körper mit den Mündern. Ich bin kein großer Fan von Speichel und ehrlich gesagt froh, dass ich das Sabbern nicht selbst sehen muss. Verstörend und immer wieder die babyhaften Experimente unterbrechend sind die aufreizenden Blicke der Babys, besonders Xenias, in den Zuschauerraum. Emmilou berichtet von diesem Blicken und Gesten. Trotzdem schaffe ich es nicht, diese Erotik mit dem, was ich höre in Einklang zu bringen. Ich höre brabbelnde und manchmal schreiende Babys, spüre ab und zu sogar stampfende Schläge auf dem Boden, die mich an die unkoordinierten Bewegungen von Kleinkindern erinnern. Das Sexualisierte bleibt mir fremd.

Letztendlich weiß ich nicht, ob „Baby Choir“ eine Kritik an der Sexualisierung von Babys in unserer Gesellschaft ist oder in Frage stellt, dass wir im Erwachsenenalter nicht mehr mit unseren Körpern experimentieren.

Bilder zeugen von Hintergrundwissen

Emmilou beschreibt die Bewegungen der Performer*innen nachvollziehbar und wenn möglich mit Bildern. Einige Bilder zeugen offensichtlich von dem Hintergrundwissen, die sie durch die frühe Beteiligung an der Performance gewonnen hat. So zum Beispiel, als eine Performerin in den Armen der anderen liegt und Emmilou dies mit der Pietà vergleicht, in der Maria den Leichnam Christi hält. Es gefällt mir, dieses Hintergrundwissen zu bekommen, obwohl mir nicht klar ist, was die Pietà mit der Performance zu tun hat. An anderer Stelle spricht sie von Suvy, die sich an dem Hügel reibt, wie von einer Kuh, die sich an einem Baum reibt. Hier habe ich mich gefragt, ob der Vergleich überhaupt nötig ist. Ich finde Bilder in einer Performance wichtig, weil die reine Beschreibung von Bewegungen mich nicht ins Stück eintauchen lässt. Trotzdem braucht es vielleicht nicht immer ein Bild, wenn es bereits aussagekräftige Verben gibt.

Ich liebe das Wort „wurmen“

Ich liebe es, dass Emmilou am Anfang das Wort „wurmen“ benutzt, um das Kriechen der Performer*innen zu beschreiben. Sie hätte auch „kriechen“ nehmen können, aber „wurmen“ beschreibt die Körper der Performer*innen gleich mit. Weniger begeistert bin ich von den, meiner Meinung nach, unnötigen Fremdwörtern wie „oral erforschen“, wenn man „mit dem Mund erforschen“ sagen kann, „exekutieren“, wenn man genauso gut „durchführen“ nehmen kann oder „adjustieren“, wenn man ausrichten sagen kann. Solche Worte distanzieren mich unnötig von der Performance.

Mehr Nähe zum Publikum

Man merkt, dass Emmilou und Pernille die Performance nicht wie normalerweise kurz vor der Premiere erlebt haben, sondern sie mehrmals und unter Rücksprache mit den Performer*innen und Choreograf*innen  entwickelt haben. Die Bilder sind klar und zu keiner Zeit höre ich nichtssagende Sätze wie: „Sie bewegt sich von rechts nach links.“ Von dem Stück, das offensichtlich Wert auf das Erforschen und Tasten legt, hätte ich mir mehr Nähe zum Publikum gewünscht. Durchgängig laufen Hintergrundgeräusche von etwas, das wie tropfendes Wasser oder knisterndes Feuer, untermalt von bassigen Tönen, klingt. Hätte man die Musik an einigen Stellen ausgemacht, hätte ich vielleicht mehr von dem Kriechen und krabbeln der Performer*innen mitbekommen. Gerade auf einem Teppichboden bin ich mir sicher, dass die kriechenden Körper zu hören gewesen wären. Stattdessen höre ich zumindest das Kreischen der „Babys“ und ihr Aufstampfen. Von einer Performance, die Audiodeskription bereits früh in im Entstehungsprozess einsetzt, hätte ich mir eine größere körperliche Präsenz der Performer*innen gewünscht.

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