Ein Mann fragte mich vor Kurzem auf einem Bahnsteig: „Und, wie ist es, blind zu sein?“ Es gehört zu meinem Job, Fragen zu Blindheit und Sehbehinderung zu beantworten, zu sensibilisieren, auf Barrierefreiheit zu testen und insbesondere Theater auf Hindernisse aufmerksam zu machen. Trotzdem kann ich die Frage, wie es ist, blind zu sein, ebenso wenig beantworten, wie der Mann am Bahnsteig mir meine Frage beantworten konnte: „Und wie ist es, sehend zu sein?“ Ich kann nur von meiner persönlichen Erfahrung berichten. Die ist sicherlich auf viele andere blinde und sehbehinderte Menschen anwendbar, aber nicht auf alle. In diesem Beitrag möchte ich euch einige Fragen präsentieren, die ich beantworten kann, und die mir in den letzten Jahren immer wieder gestellt wurden.
Wie sieht man, wenn man blind ist?
Sehende Menschen glauben oft, Blindsein bedeutet, man könne überhaupt nichts mehr sehen. Das stimmt so nicht. In seltenen Fällen sehen blinde Menschen buchstäblich schwarz. Abhängig von der Augenkrankheit können blinde Menschen aber auch Schleier, Nebel, Blitze, hell und dunkel und Farben vor sich sehen, die nicht immer etwas mit dem zu tun haben, was vor ihnen ist. Ich selbst sehe eine verschneite Landschaft wie bei einem schlechten Fernsehempfang. Dunkle und helle Punkte tanzen vor meinen Augen, als würde die ganze Welt glitzern. Jeder Mensch sieht anders. Deshalb ist die Frage: „Wie siehst du?“ wahrscheinlich besser als die Frage: „Wie ist es, blind zu sein?“
Warum sieht man dir deine Blindheit nicht an?
Diese Frage ist mir vor Kurzem in einem Online-Workshop begegnet. Die vierte Klasse, die mir Fragen gestellt hat, wunderte sich darüber, dass man mir meine Sehbehinderung (zumindest auf dem Bildschirm) nicht ansieht. Vielleicht waren sie sogar enttäuscht. Ich bin ein schwieriger Fall. Meine Augen schauen nicht in verschiedene Richtungen, ich schiele nicht und das eine Auge sieht genauso aus wie das andere. Wenn man ganz genau hinschaut, sieht man vielleicht, dass ein Auge etwas zittert. Über eine Webcam würde man das aber nicht feststellen. Wenn ich draußen herumlaufe, ist der Blindenstock ein Zeichen für meine Blindheit, obwohl es auch stark seheingeschränkte Menschen gibt, die den Blindenstock benutzen. Ich kann die Augen meines Gegenübers nicht ausmachen, sondern schaue in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Dabei schaue ich bestimmt manchmal etwas zu hoch oder zu tief. Wenn ihr mich nur über Videokonferenzen kennenlernt, müsst ihr wohl auf mein Wort vertrauen.
Wie können Sie sich orientieren. Das Mikrofon finden?
Meiner Erfahrung nach ist es für sehende Menschen schwer vorstellbar, dass man sich über Tasten und Hören einen Raum erschließen kann. Genauso ist es aber. Ich kann zwar kontrastreiche Farben und Licht noch erkennen, doch selbst, wenn ich die Augen schließen würde, wüsste ich genau, wo mein Mikro, mein Sofa, mein Tisch, mein Bett und alles andere in meiner Wohnung steht. Schließlich habe ich alles dahingestellt und insofern niemand plötzlich umdekoriert, weiß ich, dass es auch noch morgen und übermorgen dort stehen wird. In fremden Räumen verlasse ich mich auf meine bisherige Erfahrung. In unbekannten Wohnungen weiß ich zum Beispiel, dass ich im Wohnzimmer wohl kaum ein Waschbecken antreffen werde und dass neben einem Tisch auch Stühle stehen könnten. Ich kann hören, wie groß ein Raum ist und ob er vollgestellt oder fast leer ist. Der Raumklang ist viel präsenter in leeren Räumen. Draußen kenne ich ebenfalls meine Wege. Ich gehe sie jeden Tag und weiß, dass ich den Zaun entlanggehen muss, bis ich zum Drogeriemarkt komme. Wenn ich die Cremes rieche, muss ich nach rechts, wo mir schon der typische Geruch Berliner U-Bahnen entgegenschlägt. Ein gutes Gedächtnis, aufmerksames Hinhören, -tasten und -riechen erleichtern mir die Orientierung. Ich habe dadurch aber keine Superkräfte, sondern nutze nur die Möglichkeiten, die ich habe.
Wie kommen Sie mit Ihrer besonderen Situation mit anderen Menschen so gut klar?
Manchmal komme ich mit anderen sogenannten „Normalos“ nicht klar. Ich bin oft wütend darüber, dass das Sehen in meinem Umfeld derart betont wird. Von Schildern über Bezahlungsmodalitäten bis hin zu den meisten Webseiten ist alles auf das Visuelle ausgerichtet und ich ärgere mich oft über die Annahme, ich könnte nicht fernsehen, alleine leben, lesen, schreiben, spazieren gehen, einkaufen, putzen, kochen, ein Telefon bedienen und so weiter. An schlechten Tagen laufe ich absichtlich in Menschen hinein, die auf der Leitlinie im Bahnhof stehen, reiße mich aus den Griffen von Menschen los, die mir „ja nur helfen“ wollen und ignoriere gut gemeinte Hinweise wie „Sie stehen auf einem Bahnsteig“.
Meistens habe ich jedoch gute Tage und erkläre freundlich, dass ich keine Hilfe brauche, dass ich mich lieber einhake, als geschoben zu werden, und lasse mich auch gerne auf ein Gespräch über meine Behinderung ein. Ich komme am besten mit Menschen zurecht, die erkennen, dass ich nur insoweit anders bin, wie sie selbst sich von jedem anderen Menschen unterscheiden. Natürlich muss ich sagen, was ich brauche und das oft mehr als andere Menschen. Ich bin mir auch darüber im Klaren, dass die Fragen nie aufhören werden und das ist auch gut so. Wir haben Interesse füreinander und wir kommen miteinander aus, wenn wir einräumen, dass viele Wege zum Ziel fühlen. Ich lese Bücher mit meiner Sprachausgabe. Ich schreibe auf dem Computer. Ich koche nach Geruch oder mithilfe einer sprechenden Küchenwaage. Mein Blindenstock hilft mir, nirgendwo anzustoßen und in einer geraden Linie zu gehen. Verzichtet einmal einen Tag lang eure Augen, und ihr werdet staunen, auf welche kreativen Lösungen ihr nach dem ersten Schock kommt.
Wieso müssen Blinde überhaupt ins Kino bzw. ins Theater? Wieso hören sie nicht einfach ein Hörbuch?
Diese Frage wurde von einer sehenden Schülerin auf den „Schulkinowochen mit AD“ im November 2019 gestellt. Mich hat sie zum Nachdenken darüber angeregt, warum blinde Menschen ins Theater gehören. Wer sitzt schon zu Hause und hört sich in der Gruppe ein Hörbuch an, das bis zu zwölf Stunden lang sein kann? Das kommt wohl eher selten vor. Ins Kino und ins Theater zu gehen, bedeutet für mich, mit jemandem die Erfahrung zu teilen. Wenn ich mit einem Hörbuch zu Hause bleibe, ist das genauso, als würde jemand anderes nicht mitkommen können, weil alle Stücke in einer Fremdsprache ohne Untertitel und in schlechter Bildqualität gezeigt werden. Wie würdet ihr euch fühlen, wenn ihr überall erfahrt, dass dieses Stück oder jener Film nicht für euch gedacht ist? Ausgeschlossen? Minderwertig? Wütend? Durch Audiodeskription kann ich als Blinde mit den Ohren sehen und hinterher mit sehenden Freunden über mein Erlebnis sprechen. Ich bin dabei und darauf kommt es mir letztendlich an.
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