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Theater barrierefrei – Sensibilisierung im Berliner Ensemble

Posted in Veranstaltungsbericht

Vorhang auf: Eine blinde Frau betritt das Theater. Es ist Julia. Sie möchte sich im Berliner Ensemble den Othello ansehen, der heute mit Audiodeskription gezeigt wird. Zuerst möchte sie zur Tastführung, die anderthalb Stunden vor Vorstellungsbeginn stattfindet. Sie betritt das Foyer des Theaters. Der Saal ist laut und hallig. Sich zu orientieren fällt schwer. Eine andere Theaterbesucherin geht auf sie zu und packt sie unterm Arm: „Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“ Unaufgefordert zieht sie Julia zur Kasse. Weder bleibt ihr Zeit, sich in dem großen Raum zu orientieren noch wird ihr die Wahl gelassen zu entscheiden, ob sie angefasst und wohin sie geführt werden will. Ein Schreckenszenario für viele Blinde und Sehbehinderte. Theater barrierefrei erleben sieht anders aus. Mangelnde Sensibilisierung im Umgang mit behinderten Menschen führt oft dazu, dass Situationen falsch eingeschätzt werden oder Berührungsängste entstehen, wo eigentlich keine sein müssten. Damit einem blinden und sehbehinderten Publikum der Besuch ins Theater erleichtert wird, bedarf es deshalb mehr als einer Tastführung und Audiodeskription. Grundlegend ist die Sensibilisierung des Servicepersonals an den beteiligten fünf Theatern. Am 7. November ist das Berliner Ensemble dran.

Theater barrierefrei machen – ein Anfang im Berliner Ensemble

Zu Beginn müssen die 10 TeilnehmerInnen des Sensibilisierungsworkshops die Frage beantworten, was sie in ihrem Haus als Hindernis für Blinde und Sehbehinderte ansehen. Die Antworten reichen von der Mobilität im Theater über die Ansprache bis hin zur Frage, ob man Vorstellungen mit Audiodeskription für das gesamte Publikum ankündigen sollte. Das Projektteam, bestehend aus der Projektleiterin Imke Baumann, Michael Baumeister (einem ebenfalls sehbehinderten Mitarbeiter von Förderband e.V.) und mir, klärt auf.

So geht Theater barrierefrei

Julia betritt das Theater. Es ist ihr unbekannt und sie braucht deshalb einige Sekunden, um sich zu orientieren. Ein Mitarbeiter tritt von vorne auf sie zu und sagt: „Guten Abend, ich bin ein Mitarbeiter der Abendkasse. Kann ich Ihnen helfen?“
Julia: „Ja, ich suche die Kasse.“
Mitarbeiter: „Darf ich Sie führen?“
Julia: „Ja bitte. Ich hake mich gerne unter.“
Julia umfasst den Ellenbogen des Mitarbeiters und gemeinsam gehen sie zur Kasse. Dort bekommt sie ihre bereits reservierte Eintrittskarte. Danach möchte sie ihre Jacke an der Garderobe abgeben. Der Service-Mitarbeiter führt sie dazu in einen anderen Raum. Sie gehen durch eine schmale Tür. Der Mitarbeiter geht voraus, da er auf diese Weise auf mögliche Hindernisse besser reagieren kann. Sie erreichen die Garderobe. Julia gibt ihre Jacke ab und erhält eine Nummer. Der Mitarbeiter an der Garderobe erklärt, dass es sich um die Nummer 523 handelt und gibt ihr die Karte in die Hand. Gar nicht so schwer, oder?

So geht es nicht

Ziehen, schieben, ungefragtes Anfassen, von hinten kommen, ungenaue Ansagen wie „da drüben“ – das alles erschwert die Orientierung mehr, als dass es hilft. Dabei braucht es eigentlich nur einen respektvollen Umgang und eine Prise Einfühlungsvermögen. Sich einfühlen – das lernen die MitarbeiterInnen am eigenen Leib. Sie bekommen Simulationsbrillen, die eine Sehbehinderung vortäuschen. Einige bekommen Augenbinden. Dann müssen sie lernen zu führen und sich führen zu lassen. Hinterher fühlen sich viele buchstäblich so, als wären ihnen die Augen geöffnet worden. Reaktionen variieren von „Das war ein gruseliges Gefühl“ bis hin zu „Das erfordert unglaubliches Vertrauen“. Ja, Vertrauen muss man als Blinder schon haben. Oft wird man im alltäglichen Leben von Menschen geführt, die keine Sensibilisierung durchlaufen haben. Einige machen es von Natur aus richtig. Sie fragen, ob man Hilfe braucht und ob man sich unterhaken möchte. Andere greifen einfach zu, führen einen erst ab wie einen Gefangenen und dann doch gegen ein Fahrrad.
In solchen Situationen muss sich ein sehender Helfer immer vor Augen führen, wie es ihm ginge, wenn er die Augen schlösse und dann von fremden Leuten irgendwohin gezerrt würde. Ganz zu schweigen davon, dass man als Blinder ohne Blindenstock kaum die Möglichkeit hat, sich zu orientieren, ist es auch eine beängstigende Situation, keine Entscheidungsgewalt darüber zu besitzen, wer einen anfassen darf und wer nicht.

Die Sensibilisierung endet, Theater barrierefrei beginnt

Die Schulung endet an diesem Tag mit der Erkenntnis, dass Blinde auch nur Menschen sind und das bedeutet vor allem, dass jeder andere Bedürfnisse, Vorlieben und Grenzen hat, die man einhalten sollte. Die Sensibilisierung ist ein Anfang. Eine Routine muss sich im Theaterbetrieb aber erst entwickeln und das bedarf in erster Linie Geduld auf beiden Seiten. Am 12. November findet die erste Vorstellung mit Audiodeskription im Berliner Ensemble statt und weitere werden folgen. Für Termine und Stückankündigungen meldet Euch gerne hier auf der Blog Seite für den Newsletter an und schaut vor allem mal in den Theatern vorbei, wenn der Vorhang für die nächste Vorstellung mit Audiodeskription aufgeht.

Wer gerne testen will, wie gut das Servicepersonal bei der Sensibilisierung aufgepasst hat, sollte auch unseren Spielplan im Auge behalten.

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