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Alle Augen staunen: mit Audiodeskription ohne Inklusion

Posted in Theaterrezension

Können Blinde mit den Augen staunen? Am 20. August läuft im Rahmen von „Tanz im August“ die Kinder-Performance „Alle Augen staunen“ von Lea Moro im Radialsystem. Warum sich die Veranstalter von Tanz im August gerade für die Audiodeskription eines Stückes entschieden haben, bei dem das Sehen bereits im Titel steckt, darüber kann ich nur spekulieren. Ob meine Ohren staunen, wird sich noch zeigen.

Welten in Rot und Blau

„Alle Augen staunen“ zeigt Welten in Rot und Blau, in denen neugierige Kreaturen aus alten Decken, Schlafsäcken und Zelten herumschlängeln und -krabbeln. Sie entwickeln sich gemeinsam mit ihrer Welt, lernen, auf zwei Beinen zu gehen und eignen sich ihre Umwelt immer mehr an, sodass ich mich letztendlich frage, ob sich die Kreaturen der Welt anpassen, oder ob die Welt dazu gezwungen wird, sich den Kreaturen anzupassen. Dass die Performance vor dem Hintergrund der Klimastreiks entstanden ist, wird mir klar, als die Zuschauer*innen am Ende in drei Gruppen geteilt werden und die Kinder unter uns unter anderem Fragen zur Temperatur der Sonne beantworten sollen.

Eine VIP-Tastführung nur für mich

Es beginnt gut: Als vorerst einzige blinde Zuschauerin bekomme ich eine VIP-Tastführung von der Autorin der Audiodeskription Emmilou Rößling. Sie erklärt mir, dass die Kostüme und Requisiten in Nuancen aus Blau und Rot gehalten sind. Da gibt es zum Beispiel eine Steppdecke, mehrere Sitzsäcke und ein Zelt in unterschiedlichen Rotschattierungen. Die drei Performer*innen lassen diese Gegenstände später lebendig werden. Sie tragen zunächst rote Masken und Kleidung. Je mehr sie allerdings abwerfen, desto blauer wird ihre Kleidung. Ich habe genügend Zeit, um Emmilou und den Performer*innen Fragen zu stellen und die Bühne zu erkunden, die jedoch noch nicht fertig aufgebaut ist. Das ist ein kleiner Minuspunkt, denn besser kann ich mir die Bühne natürlich vorstellen, wenn ich weiß, was alles darauf ist.

Die Vorstellung beginnt

Ich befinde mich in einer Fantasiewelt. Das liegt nicht nur daran, dass Emmilou gerade beschreibt, wie eine Wand aus Sitzsäcken sich auf einen roten Schlafsack stürzt, der raupengleich über den Boden kriecht. Ich merke es auch an den Hintergrundgeräuschen: ein Tropfen, wie in einer unterirdischen Grotte, das Rauschen von Wasser und Schreien von Möwen, dann ein Donnergrollen, das die Sitze zum Beben bringt. Es ist akustisch und taktil ein immersives Erlebnis. Genau das gefällt mir an Stücken, die für ein junges Publikum konzipiert sind – die Einbeziehung mehrerer Sinne. Was mir nicht gefällt: Ich sitze in der dritten Reihe. Das heißt, eigentlich sitze ich in der fünften Reihe, weil es vor Reihe eins bis drei noch die Reihen A und B gibt. Dadurch bin ich weiter von dem Bühnengeschehen entfernt, als ich es während einer bewegten Performance sein möchte. Als jemand, der noch hell und dunkel sieht, hätte ich mir in der ersten Reihe auch noch ein paar visuelle Eindrücke erhofft.

Die Audiodeskription ist nicht malerisch genug

Die erste Hälfte der Performance, in der die Performer*innen sich unsichtbar in Schlafsäcken, hinter einer Wand aus Sitzkissen und in einem Zelt bewegen, kann ich noch folgen, zumal die Hintergrundgeräusche aus der Natur mir den Eindruck einer Unterwasserwelt vermitteln. Die zweite Hälfte, in der die Performer*innen immer mehr zu Menschen werden, ist abstrakter. Die Geräusche werden durch technoartige Musik ersetzt. So sind es auch die Schnecken und Raupen bildenden Alltagsgegenstände der ersten Hälfte, die mich faszinieren. Immer wieder höre ich Kinderlachen um mich herum. Ich kann mir vorstellen, dass die Bewegungen auf der Bühne lustig aussehen. Bei der Vermittlung hapert es allerdings. Für eine Performance, die sich an Kinder richtet, ist die Audiodeskription mir leider nicht malerisch genug. Abstrakte Worte wie abstrahieren, inspizieren, Finger manipulieren, gestikulieren oder Objekte distanzieren mich von einem Stück, in das ich eigentlich eintauchen möchte. Sicher, ich selbst bin eine sogenannte Erwachsene. Trotzdem hätte für die Audiodeskription eine Sprache gewählt werden sollen, die zum Stück passt.

Wirklich ausgeschlossen

Wirklich ausgeschlossen habe ich mich aber erst gefühlt, als es an den Workshop ging. Die Einteilung in drei Gruppen, die jeweils von einer Performerin oder einem Performer geleitet werden, erfolgt über Poster, die unter den Sitzen versteckt sind. Darauf klebt einer von drei Stickern mit einem Baum, Thermometer oder Tintenfisch darauf. Die Sticker sind nicht tastbar. Gott sei Dank habe ich einen Begleiter dabei, denn die Performer*innen verteilen sich schnell im Raum. Als wir ankommen, hat sie schon angefangen zu sprechen. Ich kann leider kaum verstehen, was sie sagt und bekomme nur mit, dass sie die Kinder fragt, wie heiß die Sonne ist. Letztendlich können wir auch auf dem Poster herummalen. Ich verzichte. Eine abstrakte Schnecke hätte ich wohl noch hinbekommen, aber einen Baum ausmalen?

Staunen alle Augen?

Tatsächlich finde ich die Performance erstaunlich. Allerdings staune ich nicht mit den Augen, sondern vielmehr über die Auswahl des Stücks. Dass eine Autorin die Audiodeskription einen Tag vor der Vorstellung erstellen muss, wie Emmilou mir auf Nachfrage nach der Performance erzählt, ist schwierig genug. Dass es aber auch ihr überlassen wird, die Workshops und damit einen Teil der Performance zugänglich zu machen, was eigentlich Aufgabe der Performer*innen oder vielmehr der Veranstalter wäre, finde ich nachlässig. Ich weiß nicht, wann die Auswahl der Audiodeskription für „Tanz im August“ getroffen wurde. Nach „Alle Augen staunen“ kann ich nur spekulieren: Zu spät!

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