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In der Schaubude geht es nur um das Eine

Posted in Theaterrezension

Es ist Donnerstagabend und alle BewohnerInnen von Haus Nr. 69 denken nur an das Eine. Darum geht es auch am 27. September 2020 in der Schaubude Berlin. Das große Thema des Abends lautet Sex und zwar in allen möglichen Varianten und Konstellationen. Josephine Hock inszeniert ein Puppenspiel der besonderen Art mit ihr selbst als einzige Schauspielerin. Sie spielt nicht nur alle Parteien der sechs Wohnungen, sondern auch die sich darin befindlichen Gegenstände, die aus nachvollziehbaren Gründen alle ebenfalls sehr daran interessiert sind, darüber mehr zu erfahren, was sie ansonsten nur observieren. Von der Topfpflanze über Hemden, Seil und Nudelholz bis hin zum Spielzeugelefanten wollen es auch alle Gegenstände jetzt wissen. Was ist Sex eigentlich und wie funktioniert das? Begleitet wird die Inszenierung von den wunderbaren Stimmen von Jutta Polić und Charlotte Miggel

© Benjamin Drexler. Schaubude: Haus Nr. 69. Josephine Hock trägt einen schwarzen Overall. Sie steht mit dem Rücken zum Betrachter vor einem weißen Holzquadrat mit Rückwand, der ihr bis zum Hals reicht und berührt einen Bilderrahmen, der mit anderen an der Wand hängt, deren Motive die Sexerlebnisse der Bewohnerin symbolisieren. Dahinter sind noch zwei versetzt stehende Holzquadrate zu sehen, die abwechselnd die Audiodeskription sprechen.

Die Hemden interessieren sich mehr für Sex als Magnus

Das Besondere an diesem Stück ist das Bühnenbild. Es besteht aus sechs unterschiedlich hoch angebrachten Holzkisten mit offener Rückwand. Sie stellen die Wohnungen von Haus Nr. 69 dar. Jede „Wohnung“ ist anders dekoriert. Zum Beispiel befindet sich in Ulrichs Wohnung ein Seil, weil er gerne Fesselspielchen spielt. In Ruths Wohnung hängen Bilder von Orten, an denen sie schon Sex hatte. In Magnus’ Wohnung hängen Hemden, die sich mehr für Sex interessieren als er selbst. Williams und Helens Wohnung zeigt Spaghetti und einen Spielzeugelefanten. Ilka hat ein Nudelholz und die Dreier-WG verschiedene Arten von Pflanzen. Ich wusste fast immer genau, wen die Schauspielerin gerade spielt, je nachdem, welches Objekt sie in der Hand hielt.
Während des Stückes spricht sie nun abwechselnd die Figuren, die Gegenstände und die Erzählerstimme. Abgesehen von den Bewegungen ist der Monolog bereits so deskriptiv, dass die AudiodeskriptorInnen wenig zu tun haben.

Leider höre ich die Stimme der Schauspielerin doppelt

Bereits im Vorfeld gestehen die Audiodeskriptorinnen, dass dieses Stück schwierig zu beschreiben ist, weil es an jedem Abend etwas anders gespielt wird. Tatsächlich bewegt sich Josephine Hock während des Stückes oft. Sie hüpft, schreitet, setzt sich in die Kisten und bewegt die Gegenstände von einem Ort zum anderen. Die Audiodeskription leitet mich durch die Bewegungen, schafft es aber nicht immer, in die Sprechpausen hineinzusprechen. Das Video in der Mitte des Stücks beschreibt Jutta im Vorfeld. Zu sehen sind unter anderem zwei Menschen, die in einem Planschbecken rummachen.
Leider haben die Audiodeskriptorinnen keine eigene Kabine und so müssen sie ihr Mikro immer wieder ein- und ausschalten, damit keine störenden Nebengeräusche übertragen werden. Dass ich manchmal die S-Bahn im Hintergrund höre, stört mich aber weniger als der Wechsel zwischen der Stimme der Schauspielerin mit und ohne Audiodeskription. Während die Audiodeskriptorin spricht, höre ich die Stimme der Schauspielerin leider doppelt. Ich höre, wie das Mikro immer wieder ein- und ausgeschaltet wird, sodass ich mir durch das Echo der Schauspielerin wie in einer großen Halle vorkomme. Eine Kabine für die AD wäre natürlich am besten. Mich persönlich irritiert der Wechsel ein bisschen. Der Audiodeskription konnte ich trotzdem gut folgen und wenn sie ab und zu über den Monolog der Schauspielerin gesprochen hat, finde ich das nicht schlimm.

Alle reden über Sex

Die BewohnerInnen denken ganz unterschiedlich über Sex. Während die blinde Ilka den Geruch ihres Partners sehr wichtig findet, ist Magnus sein eigenes Aussehen wichtiger. Annalene hatte noch gar keinen Sex, Ulrich findet alles, was er an Sexspielzeug braucht, im Baumarkt und William macht es nur mit Kondom. Die HausbewohnerInnen reden und reden und die Wände, Hemden, Bilder, Seile, Elefanten, Pflanzen und Nudelhölzer hören interessiert zu. Fast komme ich mir selbst wie ein Teil der Wand vor, die einen kurzen Einblick in das sehr private Leben augenscheinlich normaler Berliner Haushalte bekommt. Auf diese Weise werden Dinge gesagt, die normalerweise fein säuberlich in den Wohnungen bleiben und selbst von den BewohnerInnen eher gedacht, als offen ausgesprochen werden.

Wolltet ihr schon immer wissen, was eure Nachbarn über Sex denken?

„Haus Nr. 69“ ist ein wunderbar ehrliches und herausforderndes Stück. Es sagt: Darüber sprechen wir normalerweise nicht, aber heute schon. Es ist sehr monologreich. Das lässt zum einen wenig Platz für Audiodeskription. Zum anderen beschreibt Josephine Hock selbst schon recht viel davon, was sie macht. Wenn sie zum Beispiel sagt, „Raika sitzt in ihrem Zimmer und riecht am Eukalyptus“, muss ich eigentlich nicht wissen, dass sie zur Kiste mit der Dreier-WG geht. Das ist implizit. Wie sie ihre Hände und ihr Gesicht bewegt, ist jedoch für das Stück wichtig. Vor einer Woche habe ich mir „Herr der Krähen“ mit offener AD angesehen. „Haus Nr. 69“ bietet einen starken Kontrast dazu. Statt 17 gibt es hier nur eine Schauspielerin, sodass mir viel klarer ist, wer gerade spricht. Ich kann das Stück nur empfehlen, besonders, wenn ihr schon immer mal wissen wolltet, was eure Nachbarn vielleicht über Sex denken.

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