Im Februar habe ich noch gesagt: Ich habe den besten Job der Welt. Vor März bin ich manchmal bis zu dreimal im Monat ins Theater gegangen. Mit der Audiodeskription in Theatern ging es gerade so richtig los. Und dann kam Corona. Die Theater mussten, so kam es mir vor, von einem Tag auf den anderen schließen. Keine Theaterstücke, keine Oper, nicht einmal Impro-Tanz… Dafür aber viel Zeit zu Hause vor dem Computer. Dahin hat sich nämlich das kulturelle Leben verlagert. Wie panisch haben die Kulturinstitutionen auf einmal alle möglichen Inhalte online gestellt: virtuelle Rundgänge, Podcasts, Lesungen, ZOOM-Stammtische, Führungen durch Clubs, Wohnzimmerkonzerte…
Auch die Theater haben alle möglichen neuen und alten Aufzeichnungen ihrer Vorstellungen aus den Archiven geholt, abgestaubt und ins Netz gestellt. Das Berliner Ensemble stellt inzwischen einmal wöchentlich eine Theatervorstellung online, das Deutsche Theater zweimal wöchentlich und die Schaubühne sogar täglich. Das sind so viele, dass ich den ganzen Tag lang im virtuellen Theater sitzen könnte. Theoretisch jedenfalls. Praktisch hat sich mir von Anfang an die Frage aufgedrängt: „Ist das alles noch Theater?“
Ich habe mit einigen AudiodeskriptorInnen und TheaterliebhaberInnen gesprochen, als das alles losging. Die meisten waren nicht begeistert von der Idee „Theater im Netz“. Reaktionen reichten von „Die Inklusion fällt bestimmt hinten über“ bis hin zu „Beim Theater muss man live dabei sein“. Und das ist ein wichtiger Punkt. Theater ist im Gegensatz zum Kino meistens live. Das ist sein Charme. Kann man das überhaupt im Netz umsetzen? Und wo bleibt die Barrierefreiheit? Die ist ja bislang was Online-Angebote angeht immer noch eher ein Luxus als ein Standard.
Ich war skeptisch, gerade deshalb aber auch positiv überrascht, als im April zwei Streams mit Audiodeskription herausgekommen sind. Und dann drei im Mai. Und jetzt vier im Juni. Nur so zum Vergleich: In den Monaten davor und in Live waren es – meist Dank dem Berliner Spielplan Audiodeskription – durchschnittlich
etwa ein bis zwei Vorstellungen in Berlin. Ich möchte zwei dieser Theater-Livestreams mit Audiodeskription erwähnen, an denen man die Vor- und Nachteile von Theater im Netz gut erkennen kann.
„Hamlet“ hatte durch das Theatertreffen und die Ausstrahlung auf 3sat eine große Reichweite
Zum einen die „Hamlet-Inszenierung“ aus dem Schauspielhaus Bochum. Das Stück sollte die erste Vorstellung mit Audiodeskription im Rahmen des renommierten Theatertreffens in Berlin sein. Wegen der Schließung der Theater entschied man sich stattdessen für eine Aufnahme. Das Stück handelt von Hamlet, Prinz von Dänemark. Sein Vater wurde ermordet und er kommt nach Hause, um festzustellen, dass seine Mutter seinen Onkel geheiratet hat. Eine unangenehme Situation, zumal sein toter Vater ihm kurz darauf erzählt, dass gerade dieser Onkel ihn umgebracht hat. Über „Hamlet“ lässt sich einiges Gutes sagen. Sowohl die Aufnahmequalität des Stücks als auch die der Audiodeskription waren klar und deutlich. Dadurch konnte ich dem Bühnengeschehen gut folgen. Es war nicht live und hat sich deshalb auch nicht genau wie im Theater angefühlt, aber Hamlets innere Zerrissenheit und der unterschwellige Humor des Stücks sind trotzdem gut vermittelt worden. „Hamlet“ hat durch das Theatertreffen und die Ausstrahlung auf 3sat eine große Reichweite. so können im gesamten deutschsprachigen Raum Blinde und Sehbehinderte
Von einem barrierefreien Theaterangebot profitieren. Nebenbei wird auch das Thema Audiodeskription verbreitet. Darüber hinaus kann man sich das Stück noch bis zum 31. Juli 2020 mit Audiodeskription ansehen, wann immer man möchte.
„Peer Gynt“ konnte wegen der Aufnahmequalität leider nicht glänzen
Das zweite Stück, das ich erwähnen möchte, ist „Peer Gynt“ vom Schauspiel Leipzig. Peer Gynt ist ein Träumer, der den lieben langen Tag nur Lügen erfindet. Sein ganzes Leben lang verbringt er damit, sich auszumalen, wie es wohl wäre, wenn er der Held wäre. Am Ende seines Lebens stellt er jedoch fest, dass er nie herausgefunden hat, wer er eigentlich ist. Das war ein Stück, das zwar einfallsreich, bildreich und fantasievoll inszeniert war, als Livestream aber leider nicht glänzen konnte. Die Audiodeskription war wunderbar eingesprochen, aber die Aufnahme des eigentlichen Theaterstücks war so leise und in einer so schlechten Aufnahmequalität, dass ich an vielen Stellen nur die Beschreibung hören konnte. Irgendwann habe ich den Stream so laut gestellt, dass die Audiodeskription durchs ganze Haus gedröhnt ist. Ich bin froh, dass über uns eine ältere Dame wohnt. Trotzdem habe ich kaum etwas verstanden und das für zweieinhalb Stunden. So lang war das Stück nämlich. Zum Vergleich, „Hamlet“ dauerte zwei Stunden. Zudem war „Peer Gynt“ wie viele andere Theaterstücke aus urheberrechtlichen Gründen nur 24 Stunden lang online.
Die Reichweite von Internetangeboten rückt „Audiodeskription“ ins öffentliche Bewusstsein
Hier haben wir also zwei Beispiele für Online-Theaterstücke mit Audiodeskription – ein gutes und ein weniger gutes. Und die Frage bleibt: Wollen wir das? Wollen wir das vor allem noch, wenn wir wieder ins Theater gehen können? Ich habe mir im April ein Stück ohne Beschreibung angesehen – die Oper „Fidelio“. Als jemand, die nicht viel mehr als ein paar Farben und Bewegungen auf dem Bildschirm wahrnimmt, sind einige Fragen offengeblieben. Zum Beispiel „Wer spricht da gerade?“, „Wo sind wir?“ und „Warum war das jetzt gerade lustig?“
Theater-Livestreams mit Audiodeskription haben momentan absolut ihre Berechtigung. Wie das in Zukunft aussieht, ist die Frage. AudiodeskriptorInnen, mit denen ich gesprochen habe, sind nicht ohne Grund skeptisch, denn das Internet als Theaterersatz hat seine Nachteile. Wir sind es zum Beispiel nicht gewohnt, zwei Stunden lang vor dem Computer zu sitzen, um uns ein Theaterstück anzusehen. In einem Interview in unserem Theaterclub sagte die Audiodeskriptorin Maila Giesder-Pempelforth, dass bei einem ihrer Stücke ungefähr 120 Menschen den Stream mit Audiodeskription begonnen, aber nur um die 11 Personen das Stück zu Ende gesehen haben. 15-minütige YouTube-Videos: Ja! Zweistündige Theaterstücke sind eine Herausforderung. Noch ein Nachteil ist, dass eine Live-AD im Theater viel präsenter ist. So hat man das Gefühl, man würde sich einen Film ansehen. Das Gefühl mittendrin und voll dabei zu sein, geht leider verloren, oft zusammen mit der Sound-Qualität.
Aber und das ist ein großes ABER: Ich finde, es gibt auch einen Vorteil: Wenn ich hinter Posemuckel irgendwo in Brandenburg wohne, muss ich nicht extra nach Berlin fahren. Ich kann mir die Aufführung von überall ansehen. Allein seit April konnte ich mir dadurch fünf Vorstellungen mit Audiodeskription ansehen. Das heißt, Vorstellungen mit Audiodeskription im Netz haben theoretisch eine größere Reichweite. Zudem kann ich selbst entscheiden, wann ich das Stück sehen will. Selbst Streams, die nur einen Tag lang online sind, kann ich nachmittags, abends oder am Morgen ansehen. Das macht Livestreams wesentlich flexibler als Live-Theaterstücke.
Noch einen Vorteil sehe ich für die Verfechter der AD. Die größere Reichweite von Internetangeboten bedeutet nicht nur, dass barrierefreie Theaterstücke einem größeren blinden und sehbehinderten Publikum zugänglich gemacht werden. Generell können Themen wie „Inklusion“ und „Audiodeskription“ viel mehr ins Bewusstsein aller gerückt werden.
Am 28. Juni 2020 findet der letzte Theaterclub in dieser Spielzeit statt. Imke, Ursula und ich wollen mit euch über die vergangene Spielzeit sprechen, zusammenfassen, was gut und was weniger gut war und was wir uns für die Zukunft wünschen. Eure Beiträge, Kommentare, Wünsche und Hoffnungen sind dabei gefragt. Gebt also wie immer gerne euren Senf dazu. Als zusätzliches Schmankerl könnt ihr euch auch unseren neuesten Podcast anhören.
Mehrmals monatlich halten wir euch über die aktuellen Vorstellungen mit Audiodeskription auf dem Laufenden. Hier geht’s zum Newsletter.