Im Oktober 2023 wurde der deutsche Tanzpreis in Essen verliehen. Diesmal ging der Preis für herausragende Entwicklungen im Bereich Tanz an Sophia Neises. Mit „With or without you“ präsentierte sie im September in den Uferstudios ihre erste Performance unter eigener künstlerischer Leitung. Sophia ist Inklusionsaktivistin, Performerin, Choreografin, Dramaturgin, Theaterpädagogin, Workshopleiterin, mit Sehbehinderung lebend und zum 15. Theaterclub bei uns zu Gast. Hier ist mein Interview mit Sophia Neises:
Lavinia: Kannst du uns kurz erzählen, wie du zum Tanz gekommen bist?
Sophia: Ich wollte schon immer tanzen. Dann bin ich zum Kinderballett gegangen. Ich habe das gemacht, bis ich ins Internat gegangen bin. Ich habe die Sehbehinderten – und Blindenschule in Marburg besucht. Dann habe ich in Berlin Theaterpädagogik studiert. Über ein offenes Tanztraining, wo sich behinderte und nicht-behinderte Menschen jeden Donnerstagabend getroffen haben, bin ich wieder zum Tanz gekommen und wurde über ein*e Choreograf*in als Performerin weiterempfohlen.
Lavinia: In einem deiner Interviews bin ich über diese Begriffe gestoßen: „Sounding, mapping und tracing“. Könntest du erklären, was diese Begriffe bedeuten und was sie mit der Zusammenarbeit mit sehenden Performer*innen zu tun haben?
Sophia: Diese Performance-Räume sind visuelle Räume. Die Leute kommen aus Tanzschulen, wo man sehen muss, was die leitende Person macht. Das hat Stress bei mir ausgelöst, bis ich gesagt habe: Ich akzeptiere das nicht mehr! Mehr und mehr habe ich herausgefunden, wie ich Bewegungen von anderen Leuten abnehmen kann. Für mich bedeutet „Tracing“, mitzugehen, mich mit auf den Boden zu legen, mitzustehen, mitzurollen und so eng wie möglich nachvollziehen zu können.
Manchmal tanzt du aber auch über Distanz miteinander. Hier wird das Akustische präsent, um zu wissen, wo die anderen gerade sind. Das ist das „Sounding“: Bewegungen mit verschiedenen Sounds belegen, damit ich in der Bewegung mitgehen kann.
Bei dem „Mapping“, geht es für mich vielmehr um eine Strategie, dass jede Information, die du hörst, sofort Teil deines inneren Plans wird. Du läufst durch den Gang und hörst eine Toilettenspülung. In der inneren Landkarte speicherst du ab: Hier hinten links sind die Toiletten.
Lavinia: Du wirst ja unter anderem auch für deinen Aktivismus in Sachen Inklusion im Tanz geehrt. Wie würdest du Inklusion für dich definieren?
Sophia: Wie es auch in der Behindertenrechtskonvention beschrieben wird. Es ist dieser Gedanke: Nicht der behinderte Mensch passt sich an die gegebenen Umstände an, sondern ein Raum kann geschaffen werden, der sich an den Bedarfen der Anwesenden orientiert. Natürlich will ich als Choreografin und Theaterpädagogin die Leute mit denen ich arbeite auch fordern und weiterbringen, aber dafür müssen erstmal die Grundbedingungen geschaffen werden, dass wir alle gefordert und gefördert werden können und nicht nur die Normgesellschaft. Ich konzipiere das von Anfang an so, dass es ein Raum ist, wo eine taube Person sich genauso willkommen fühlt, wie hörende Leute statt erst nachträglich daran zu denken. Das ist auf jeden Fall mein Anspruch an Inklusion.
Lavinia: Wie gestaltest du deine Performances barrierefrei für Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, wie sie Menschen mit Sehbehinderung, Taubheit, körperlichen Einschränkungen und chronischen Erkrankungen haben?
Sophia: Für mich war es in meiner Produktion wichtig, verschiedene Dramaturg*innen zu haben, weil ich möchte, dass ein Stück für verschiedene communities auch eine Dramaturgie hat. Sie muss aber nicht immer die gleiche sein. Ich habe nicht gesagt: „Du bist taub und musst alles mitkriegen, was die Hörenden mitkriegen.“ Die Hörenden sind nicht der Standard. Gleiches gilt für Menschen mit Sehbehinderung. Wir haben unseren eigenen Wahrnehmungsstil und diesen möchte ich voll und ganz respektieren. Ich sage immer: Du musst mich nicht sehend machen, aber vergiss mich nicht.
Lavinia: Wie bist du auf das Thema „Assistenz“ in deiner Performance „With or without you“ gekommen?
Sophia: Ich fand es spannend, das Feld von flüchtigen Assistenzmomenten zu untersuchen. Dann aber auch Momente von Assistenz zum Beispiel in einer Partner*innenschaft oder Freund*innenschaft, wo wir merken, dass wir uns gegenseitig ganz genau kennen. Wenn eine Freundin von mir ihre Krücken auf der anderen Seite des Raumes hat und ich weiß, ich laufe jetzt zu ihr, dann bringe ich sie zum Beispiel schon mal mit, auch ohne groß Fragen zu müssen.
Oft erlebe ich aber auch diese andere Form von gezwungener Intimität, wo Leute einen plötzlich einfach festhalten, aus dem Nichts heraus, weil sie denken, ich kriege vielleicht nicht mit, dass hier in meinem Weg ein E-Scooter steht, obwohl ich meinen Blindenstock benutzen kann. Es ist eine gezwungene Form von Vertrautheit und Intimität, mit der ich mich vielleicht nicht wohl fühle und vielleicht auch nicht mit Fürsorge gehandhabt werde.
Diese beiden Seiten der Medaille haben mich sehr interessiert: Einerseits diese Offenheit und Vertrautheit, die sich so selbstverständlich anfühlen kann und andererseits: Was macht das mit meinem Körper, mit meiner Stimme, mit meinem Ausdruck, mit meiner Präsenz in dieser Gesellschaft als behinderte Frau, wenn ich immer wieder diese gezwungene Intimität in Assistenz erleben muss?
Lavinia: Was hast du in „With or without you“ statt einer Audiodeskription angeboten, um so viele Menschen wie möglich mitzunehmen?
Sophia: Ich habe eine andere Form von Beschreibung aus dem Spiel heraus und die Nähe zum Publikum gewählt sowie einmal ganz konkret Audiodeskription, wo wir zwei Menschen aus dem Publikum dazu eingeladen haben, eine Szene zu beschreiben, die auf der Bühne live passiert.
Lavinia: Vor zwei Jahren habe ich bereits ein Interview mit dir geführt. Damals hast du gesagt, du möchtest Räume schaffen, wo man nicht mehr unterscheiden muss zwischen nicht-behindert und behindert und dass das Theater der einzige Ort ist, wo du dir diese Utopie vorstellen kannst. Wie nahe bist du diesem Anspruch gekommen?
Sophia: Selbst wenn wir in einem Raum sind, der für alle funktioniert, gibt es die Menschen, die in ihrer Biografie aufgrund der Behinderungen enorm viel Ausschluss, Diskriminierung oder Ableismus erlebt haben und die Leute, die das noch nie erlebt haben. Darum weiß ich nicht, ob ich noch sagen würde: Ich möchte diese Dichotomie auflösen. Aber ich möchte einen Rahmen schaffen, in dem sich alle kreativ entfalten können.
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