Direkt zum Inhalt

„Das Heidi“: Eine Collage aus Heimatidylle, Flüchtlingsgeschichten und Audiodeskription

Posted in Theaterrezension

„Jodelodihi!“ ruft es im Theater o. N. am 13. Oktober. An diesem Tag hören und erleben wir die altbekannte Geschichte rundum das Waisenkind Heidi, das nach dem Tod ihrer Eltern zu ihrem Großvater auf die einsame Alm kommt, einmal anders. „Das Heidi“ wird von vier Darsteller*innen gespielt, darunter der Rapper Volkan T. alias „das Heidi“, die Performerin Carina Wohlgemuth und die blinde Künstlerin Silja Korn (Großmutter und Engel) und der Puppenspielerin Uta Lindner. Es ist schon etwas Besonderes, dass ich nur wenige Wochen nach der Performance „With or Without you“ erneut eine Performance besuche, die eine integrierte Audiodeskription hat. Ich bin gespannt, wie diese All-Inclusive-Performance diesmal umgesetzt wurde.

Silja zeigt mir alles

Eine Stunde vor Stückbeginn startet die Tastführung. Heute bin ich die einzige blinde Zuschauerin. Silja und eine Menge anderer Mitarbeiter*innen des Theaters empfangen mich freundlich. Es geht eine geschwungene Treppe zum Theaterraum hinauf. Dort ist ein heller Teppich ausgelegt. Es liegen Kissen auf dem Boden und weiter hinten steht ein Klavier. Auf der Tribüne, auf der das Publikum zuerst sitzt, dort sitzen auch die Performer*innen, Uta und Volkan. Silja empfängt mich. Sie zeigt mir alles und wenn ich alles sage, meine ich auch alles.

Die Tastführung: Siljas Fenster, Siljas Tür, Siljas Bank

Ich werde zuerst auf die Tribüne geführt und bekomme danach den Rollstuhl von Klara gereicht, der gleichzeitig ein Puppenhaus ist und Lichter sowie ein Akkordeon enthält. Silja zeigt mir das Bett, eine Menge Kissen, die Puppen, Heidi und Fräulein Rottenmeier, die Kostüme des Almöhi und des Geißenpeter, das Tuch von Heidi, eine Papierblume, die Silja mit Parfum besprüht, die Kissentasche, in dem sie das Parfum aufbewahrt. Die Nische, in der sie steht, den Platz in der ersten Reihe, wo Silja sitzt. Das Bett, das Klavier, die Tür zu den Umkleideräumen, ein Fenster, die Bänke an den Wänden und den Aufbewahrungsraum unter der Tribüne, wo der „Rollstuhl aufbewahrt wird. Dabei sagt sie immer wieder: „Das ist mein Sitzplatz. Das ist meine Nische. Das ist mein Kostüm. Das ist mein Bett, meine Tür, mein Fenster, meine Bank.“ Am Ende glaube ich, dass alles in diesem Raum Silja gehört. Die Tastführung ist unglaublich ausführlich. Ich bin etwas überfordert und mehr als ein bisschen müde, als die Tastführung zu Ende geht.

Ein nicht ganz traditionelles Heidi

Nach einer kleinen Kaffeepause geht es los. Um 10:00 Uhr betreten wir den Theaterraum. Während ich mich noch mit meiner Arbeitsassistentin, Krissy, unterhalte, beginnen Volkan und Uta im Publikum zu sprechen. Uta erzählt, dass sie gerne zu Hause bleibt. Dann beschließen sie, dass es Spaß machen würde, eine Geschichte zu erzählen und zwar Heidi. Volkan spielt Heidi. Heidi wird als Mädchen mit krausen dunklen Locken beschrieben. Immer wieder muss Volkan uns daran erinnern, dass er eine Glatze hat. Diese Momente sind Highlights für mich und bringen mich immer wieder zum Schmunzeln.

Die Geschichte nimmt ihren Lauf. Heidi kommt zu ihrem Großvater, der sie liebgewinnt. Dann wird sie zu Klara gebracht. Ihre Zeit bei Klara wird etwas vertiefter erzählt. Am Ende kommt Heidi zurück auf die Alm und Klara lernt, wieder zu laufen. Zwischen den Erzählungen rundum Heidi werden Flüchtlingsgeschichten eingebunden. Entweder sind es Aufnahmen von Kindern oder die Performer*innen erzählen selbst. Am besten bleibt mir in Erinnerung, wie ein Mädchen seiner Mutter verspricht, Lehrerin zu werden. Der Geißenpeter wird ebenfalls als Flüchtling dargestellt. Zwischendurch ruft +++ immer wieder auf Englisch dazwischen und hält Reden über indigene Bevölkerungsgruppen. Besonders nach der ausführlichen Tastführung fällt es mir schwer, der Handlung zu folgen. Ich habe das Gefühl, dass die Geschichte immer wieder unterbrochen wird und ich gar nicht so genau weiß, wo ich gerade bin. Für ein Stück, das für Kinder gedacht ist, finde ich das Collagenhafte es äußerst kompliziert aufgebaut. Normalerweise bin ich absolut kein Fan von Rap-Musik. Als Volkan allerdings rappt, um Heidis Eingesperrtsein in der Stadt auszudrücken, bin ich fast erleichtert. Die Musik ist wie eine willkommene Unterbrechung des schnellen Szenenwechsels

Audiodeskription im Rampenlicht

Wie schon bei „With or without you“ ist auch die Audiodeskription bei „Heidi“ in das Stück integriert. Die Performer*innen beschreiben selbst, was sie tun und reden dabei öfter über ihre Figur in der dritten Person. Meistens beschreibt Silja, auch als kleiner Audiodeskriptionsengel mit Flügeln, was zu sehen ist. Allerdings wird in diesem Stück so viel gesprochen, dass nur wenige Bewegungen tatsächlich beschrieben werden müssen. Ich frage mich manchmal, ob es nicht günstiger wäre, die Audiodeskription in einer direkten Rede einzubauen. Statt „Er gibt ihr die Hand“ lieber „Lassen Sie mich Ihnen die Hand geben.“

Ich wünschte auch, sie hätten die Geschichte öfter gespielt, anstatt sie zu erzählen. Auf diese Weise fühle ich mich oft herausgerissen aus der Handlung statt in sie eintauchen zu können.

Ist künstlerische Audiodeskription die Zukunft?

Insgesamt muss ich sagen, dass „das Heidi“ mir wie ein sehr anspruchsvolles Stück vorkommt. Es gibt viele Ebenen: Die Geschichte rundum Heidi, die englischen Einwürfe, Gesang und Rap, die Geschichten der Flüchtlingskinder und die Audiodeskription. Persönlich fiel es mir schwer, all diesen Facetten zu folgen. Ich hätte mir gewünscht, die Tastführung wäre ein wenig kürzer mit Fokus auf die wichtigsten Requisiten und Kostüme. Außerdem wäre das Stück immersiver, wenn Heidis Geschichte weniger erzählt und mehr gespielt worden wäre. Auch die Audiodeskription hätte noch mehr in das Stück eingearbeitet werden können, indem sie beispielsweise in die direkte Rede zwischen den Charakteren eingebunden wird.

Trotzdem bin ich begeistert, dass es mehr Experimente mit Audiodeskription als künstlerische Methode und Teil der Performance gibt. Neben „(in)visible“ 2019 erlebe ich es in diesem Jahr zum ersten Mal und dann gleich in zwei Stücken kurz aufeinander folgend. Allein deshalb möchte ich meine Wertschätzung ausdrücken. Die Liebe zum Detail war unverkennbar ebenso wie die Begeisterung, mit der die Theatergruppe das Stück aufgeführt hat. Ich hoffe, es sind noch viele blinde und sehbehinderte Zuschauer*innen in dieses Stück gekommen.

Unser Newsletter rettet euch vor kultureller Langeweile

Mehrmals monatlich halten wir euch über die aktuellen Vorstellungen mit Audiodeskription auf dem Laufenden. Hier geht’s zum Newsletter.

Relevante Links