„In dem schönen Ort Maria Blut werden alle Schmerzen wieder gut.“
Heute sitze ich mal wieder vor dem Computer und schaue mir ein Theaterstück mit Audiodeskription online an. Es handelt sich um kein geringeres Stück als „Die Eingeborenen von Maria Blut“ nach dem Roman von Maria Lazar, das auf dem 60. Theatertreffen gezeigt wurde. Darin verwandelt sich eine tratschende Dorfgemeinschaft innerhalb von anderthalb Stunden in eine Gemeinschaft von Judenhassern. „Die Eingeborenen von Maria Blut“ gehörte außerdem neben „Ein Sommernachtstraum“ und „Bus nach Dachau“ zu den Stücken, die für das Theatertreffen mit einer Audiodeskription versehen wurden. Eingesprochen wurde die Audiodeskription von Nadja Schulz-Berlinghoff. Wenn ihr es bis jetzt verpasst habt, könnt ihr es noch bis September 2023 in der 3sat-mediathek finden:
Die Audiodeskription findet ihr in den Spracheinstellungen.
„Die Eingeborenen von Maria Blut“ nimmt uns mit in die Welt eines Dorfes, das eine düstere Realität verbirgt. In der Gemeinde spielt der Tratsch eine dominante Rolle, und jede Abweichung von der Norm wird mit gnadenloser Kritik und Verleumdung bestraft. Das Stück beginnt mit dem Tod von Doktor Lohmanns Frau. Schnell verbreitet sich das Gerücht, er könnte dafür verantwortlich sein. Parallel dazu führt die finanzielle Katastrophe, verursacht durch den Untergang der Schellbach-Fabrik, zu Unruhen und Misstrauen innerhalb der Gemeinschaft, die sich insbesondere gegen Ausländer und Juden richten.
Das Stück erreicht seinen Höhepunkt, als Tratsch und Gerüchte zur Realität werden: Juden werden nicht mehr im Dorfladen bedient, der Anwalt wird abgeführt, und diejenigen, die zu selten oder zu oft in die Kirche gehen, werden ebenfalls verurteilt. Niemand ist vor den Folgen des Tratsches und der aufkommenden politischen Ideologie sicher. Die Eingeborenen von Maria Blut zeigt auf beklemmende Weise, wie eine scheinbar harmlose Dorfgemeinschaft zum Nährboden für den Aufstieg des Nationalsozialismus werden kann.
Bis auf Doktor Lohmann sind die Charaktere des Stücks sehr stereotyp. Es gibt die fanatische Hitlerliebhaberin Mitzi Reindl, den trotteligen und doch nach sich nach Anerkennung sehnenden Vinzenz, die fromme Notburga, die von ihrem Herrn verführte Angestellte Toni und die tratschende Dorfgemeinde, die nichts lieber mag, als bei einem Gugelhupf Gerüchte zu verbreiten. Nur Lohmann scheint tiefschichtiger zu sein. Er stellt sich gegen die Ideologie der Nazis. Welchen Einfluss sie jedoch schon auf den zuerst einfachen Tratsch der Eingeborenen haben, bemerkt er erst, als sein jüdischer Freund und Schachpartner abgeführt wird. Einen Helden findet man in dieser Figur jedenfalls nicht. Zwar bietet er seiner Angestellten, Toni, die Ehe an, nachdem er sie geschwängert hat. Kurz darauf besucht er jedoch seine Geliebte in Wien und gibt Toni die Adresse eines „Engelmachers“, um das Ungeborene loszuwerden. Am Ende regt er sich zwar über die Nazis auf, setzt sich aber trotzdem in den Schnellzug, der ihn außer Landes bringt. Zwar hätte ich mich besonders bei diesem Thema an einen positiveren Helden geklammert, aber ich muss dem Stück zugutehalten, dass es gnadenlos zeigt, wie harmlos erscheinender Tratsch zum Ausschluss und schließlich zur Deportation Andersdenkender führen kann. Wie unglaublich scheinheilig und unchristlich das Verhalten der Eingeborenen ist, zeigt sich eindrucksvoll in der am Ende des Stücks Blut weinenden Marienstatue.
Die Audiodeskription hilft mir, mich zwischen Romanfetzen, raschen Szenenwechseln und vielen Figuren zurechtzufinden. Ich bin besonders froh darüber, dass die Kostüme immer wieder beschrieben wurden. Auf diese Weise ist mir der Überfluss an Latexkleidung aufgefallen, den ich sonst nie mitbekommen hätte. Obwohl mich das ständige „Es wird dunkel – es wird hell“ Anfangs irritiert, habe ich nach dem dritten Mal begriffen, dass es sich um Szenenwechsel handelt. Vielleicht wäre ich weniger verwirrt gewesen, wenn die Audiodeskription tatsächlich „Szenenwechsel“ gesagt hätte. Abgesehen davon hat sich Nadjas Stimme gut in das Stück eingefügt. Oft habe ich vergessen, dass sie überhaupt da ist, und das sehe ich immer als gutes Zeichen. Nur an der Stelle, als Vinzenz die Reindl Mitzi besucht und eine Off-Stimme vorliest, wie Vinzenz nach dem Buch „Mein Kampf“ greift, habe ich mich gefragt, ob man das nicht an mehreren Stellen einbauen könnte, da es fast wie eine offene Audiodeskription klang.
Wenn ich etwas aus den letzten Jahren vermisse, dann Stücke online zu sehen, besonders aus anderen Städten. Darum habe ich es umso mehr genossen, mir dieses Stück ganz gemütlich zu Hause anzusehen. Mit seinen anderthalb Stunden war es zudem kurzweilig. Trotzdem würde ich mir dieses Stück gerne live im Theateransehen, allein schon, um die Marienstatue betasten zu können, denn ich habe sie mir sicher unheimlicher vorgestellt, als es tatsächlich der Fall war. Ich empfehle dieses Stück jedem, der oder die sich für die Ursachen des Aufstiegs der Nazis in einem kleinen Dorf interessieren. Glücklicherweise ist das Stück mit Audiodeskription auch noch bis September in der 3sat-mediathek verfügbar. Folgt einfach diesem Link, findet den Button“ Video abspielen“, aktiviert „Audiodeskription“ in den Spracheinstellungen und schaut rein.
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