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Hinter den Kulissen: Schulung der Blindenredaktion

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Schneematsch auf den Berliner Straßen. An diesem Samstag früh im März ist die Luft kalt und feucht. Mit einer Begleitung des VBB-Services bin ich unterwegs zu einem Treffen oder genauer gesagt zum letzten Teil des Kurses über die Live-Theater-Audiodeskription. Mit Imke Baumann treffe ich mich am S-Bahnhof Wollankstraße und wir laufen die letzten 15 Minuten gemeinsam in ein Industriegebiet, wo der letzte Kursteil heute stattfinden soll. Die Sonne guckt heraus und unsere Laune bessert sich. Kurz vor dem Eintreffen beschreibt mir Imke einen strahlendgelb blühenden Forsythien-Strauch, der heute mit einer Schneeschicht gekrönt ist. Jetzt muss ich lächeln und hoffe, dass der Frühling nicht mehr lange auf sich warten lässt.

Die Blindenredaktion

Wir sind nur sieben Personen im Seminarraum und einigen uns alle recht bald auf das Du. Kathrin Wiermer leitet den Theater-Live-AD-Kurs. Sie hat über zehn Jahre AD-Erfahrung beim Film und bei TV-Serien gesammelt und arbeitet aktuell hauptberuflich in der Pressestelle der Bundesstiftung Gleichstellung. Johanna kommt aus München und arbeitet als freiberufliche blinde Autorin und Redakteurin für Audiodeskription meist bei Film und TV mit einer sehenden Arbeitsassistenz. Imke ist die Leiterin des Projekts Berliner Spielplan Audiodeskription, macht Radaktion der Live-AD bei Theaterstücken und spricht auch selbst Live-AD. Johanna und Imke ergänzen manchmal Kathrins Vortrag mit anderen guten Beispielen aus ihrer eigenen Erfahrung. Mich selbst sehe ich eher als AD-Konsumentin und dieses Mal auch als Berichterstatterin. Gespannt lausche ich Kathrins Ausführungen über die Live-Theater-AD.

Anfangs stellt sich jede von uns vor und beschreibt sich mit ein paar Worten. Die Selbstbeschreibungen der Menschen, mit denen ich die nächsten Stunden zu tun haben werde, gefallen mir sehr. Zu einem Vornamen und einer Tätigkeit kommt so noch ein Farbtupfer hinzu, der für mich ein kleines Bild der Person ergibt.

Innere Bilder

Um die „berühmten inneren Bilder“ soll es in diesem Kurs auch gehen, sagt Kathrin. Die Live-Theater-AD darf das Kunststück nicht verändern, sondern soll es unterstützen. Manche Dinge erschließen sich erst, nachdem man sich das ganze Theaterstück angeschaut hat. Es läuft eine PowerPoint-Präsentation und Kathrin erzählt viele Details mit Beispielen. Es gibt kaum Fragen seitens der Kursteilnehmerinnen, aber alle drei sind nicht ganz neu auf dem Gebiet der AD. Tania hat bereits reiche Erfahrung mit AD für Filme und Serien. Lena hat unter anderem Literatur studiert, arbeitet seit einigen Jahren bei Gravity Access Services und beschreibt live Tänze und Performances. Juliane macht den Kurs nicht zum ersten Mal, ist selbst eine Künstlerin im Bereich der bildenden Kunst und koordiniert aktuell Projekte und Sprachkurse mit afghanischen Jugendlichen.

Johanna erzählt, dass sie vor Gericht gegangen ist, um ihre Arbeitsassistenz als Fachkraft anerkennen zu lassen. Nachdem Johanna ihre Begründung abgegeben hat und als Beispiel andere freiberufliche blinde Redakteur*innen mit einer solchen Fachassistenz in München genannt hat, hat sie die Fachassistenz bewilligt bekommen. Was im Klartext bedeutet, dass das Integrationsamt Johannas Assistenz 23 Euro pro Stunde zahlt und der Arbeitgeber zwei Profis zum Preis von einem bekommt. Bemerkenswert ist, dass in diesem Arbeitsverhältnis der blinde Mensch die Verantwortung für die sehende Person trägt.

Grundsätze der Blindenredaktion

Kathrin spricht über die Blindenredaktion und die Grundsätze. Sie bemerkt, dass das Team der Redaktion gewinnt, wenn eine blinde Person dabei ist – und trotzdem wird es nicht immer so gemacht. Die Zusammenarbeit zwischen den Team-Partner*innen erfordert, dass man miteinander offen ist, einander zuhört und Kompromisse findet. Wenn man etwas nicht verstanden hat, muss die sehende Person eine andere Formulierung suchen. Sehr wichtig ist es, die Arbeit der anderen wertzuschätzen, Offenheit zu bewahren und Begriffe, die man kennt, sowie die Assoziationen und Definitionen zu berücksichtigen. Wenn bei mir kein inneres Bild entsteht, sucht man nach anderen Formulierungen und Definitionen. Das innere Bild muss ein Gesicht haben.

Auch wenn vielleicht alles einfach klingt, sollte man sich auf das Wesentliche beschränken. Die ausgewählten Worte müssen trotzdem die Gefühle transportieren. Besonders beim Theater ist viel Gefühl gefragt. Heißt es jetzt zittern, beben, zucken oder was ganz anderes? Auch die Farben sind wichtig. Auch wenn man sich das nicht vorstellen kann, könnte Rot Hitze und Blau Meer oder Entspannung bedeuten. Nicht weniger wichtig ist es, die Lichtverhältnisse zu definieren: Warmes rotes Licht kann die Atmosphäre im Stück verstärken. Gleichzeitig muss man vorsichtig mit Interpretationen umgehen. Allerdings kann man bei Kindern Vergleiche nutzen, um die inneren Bilder besser vorstellbar zu machen. Auch beim Tanz nutzt man Vergleiche, sonst wird die AD zu technisch und man darf es lebendiger machen.

Audiodeskription als Gesamtkunstwerk

Da ein Gesamtkunstwerk entsteht, muss man sich an den Geräuschen oder an der Tonspur entlanghangeln. Man definiert die Lücken und schaut sich dann das ganze Werk an. Gleichzeitig gibt es verschiedene Wahrnehmungen und verschiedene Vorgehensweisen. Es gibt die Möglichkeit, gleich die Beschreibung zu machen oder erst die Lücken zu definieren. Es ist ratsam, bei der Einführung nicht das Offensichtliche zu beschreiben und auch nicht mit der Umgebung anzufangen. Die AD greift letztendlich ein in das Kunstwerk und soll es nicht verändern, sondern ergänzen. Es ist eine Abwägung, Wörter zu wiederholen, um vielleicht etwas stärker auszudrücken. Gute Recherchen sind von großem Nutzen, um Begrifflichkeiten zu erklären. Umständliche Formulierungen wie: „Sie steht auf und geht zum Fenster.“ Wenn sie zum Fenster geht, dann ist sie auch aufgestanden. Es gilt, kürzere Formulierungen zu nutzen. Handlungen, die von Natur aus länger brauchen, dürfen kleine Pausen haben. Hält inne, macht Pause.

Zu den Kostümen: Aufwändige Kostümierungen können das Publikum leider überfordern, und von einer zu detailreichen Kostümbeschreibung bleibt nicht viel in der Erinnerung haften. Das Bühnenbild wird von links nach rechts beschrieben. Die Bewegung der Personen auf der Bühne von der Bühnenmitte aus. Interpretationen sollten vermieden werden: krümmt sich vor Bauchschmerzen, er krümmt sich mit schmerzerfülltem Gesicht.

Audiodeskription ist wie eine Wegbeschreibung

Es gibt noch viele wichtige Details, die man bei einer guten Live-AD unbedingt beachten sollte. Einen schönen Vergleich von Kathrin möchte ich hier zitieren. Die AD muss zusammenhängend bleiben und man darf die Orientierung nicht verlieren. Die AD soll wie eine Wegbeschreibung sein, welche helfen soll und nicht verwirren. So kommt es, dass bei der Bühnenbeschreibung nincht selten Sachen übrigbleiben oder nicht erwähnt werden. An dieser Stelle kann man nur wiederholen: Erst das Stück sehen und dann erschließen sich manchmal die Sachen. Gegenstände bekommen Gewicht, weil sie in Worte gefasst werden. Es ist wichtig, offensichtliche Tatsachen in Worte zu fassen.

Die Gemeinsamkeit, die mir bei allen Kursteilnehmenden aufgefallen ist, ist, dass nicht nur die Kursveranstalterinnen, sondern auch die Kursteilnehmerinnen großen Wert auf Sprache legen. Es ist mir sehr angenehm, jeder von ihnen zuzuhören, wenn sie mir jeweils ein kurzes Interview geben.

Die Zeit floss schnell vorbei und es war eine angenehme Runde mit tollen Beispielen aus der Praxis der Profis. Starke Persönlichkeiten und kurze, aber herzliche Interviews waren ein großes Vergnügen für mich. Natürlich haben Kaffee, Tee, Obst und Snacks den Kurs abgerundet.

Ganz zum Schluss meldet sich Johanna zu Wort und schlägt vor, die Blindenredaktion „blinde Redaktion“ zu nennen. Was meint ihr dazu?

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