Darf die Menschheit alles, was sie kann? Woher kommt das Böse? Wie werden wir die, die wir sind? Und wer sind die Monster unserer Zeit?
Mit diesen Fragen werden wir in Jette Steckels Theaterinszenierung des weltberühmten Romans von Mary Shelley konfrontiert.
Nachdem ich kurz vor dem Theaterbesuch noch das Werk der damals 19-jährigen Autorin über den jungen Wissenschaftler Viktor Frankenstein und sein namenloses Monster gelesen hatte, freute ich mich insgeheim auf eine klassische, opulente Inszenierung. Ich hatte bewusst keine Kritiken zu den Vorstellungen am Deutschen Theater gelesen. Doch es sollte anders kommen…
Eine kleine Anregung meinerseits am Rande
Bei der Ausgabe der Empfangsgeräte entschied ich mich, eigene Kopfhörer für den Funkempfänger zu verwenden, da ich es sehr unangenehm finde, die Audiodeskription nur auf einem Ohr zu hören. Es ist für das Gehör auch nicht gesund, den einen Hörer bei lauteren Stellen ans Ohr zu drücken. Lieber höre ich die Beschreibung etwas leiser und dafür auf beiden Ohren. Diese Entscheidung hat sich gelohnt und ich empfehle, diese Variante auszuprobieren!
Eine trostlose Szenerie
In der Einleitung wurde sofort klar, dass es sich hier um eine sehr moderne und minimalistische Inszenierung handelte. Die schwarze Bühne war nur karg ausgestattet: Körniges Granulat am Boden stellte schwarzen Sand dar und neun zwei mal zwei Meter große Leuchtpaneele an der Decke spendeten steriles, klinisches Licht und gaben dem Setting etwas Kühles, Laborartiges. Mit meinem Sehrest ist es mir möglich, solch kontrastreiche Mittel noch recht gut zu erkennen und so empfand ich dieses Stilmittel als besonders eindrucksvoll. Mal leuchteten die Paneele allesamt von oben, mal senkten sie sich einzeln und gedimmt bedrohlich nah auf eine Person herab. Manchmal hingen sie senkrecht gekippt im Raum und bildeten ein waldähnliches Labyrinth, durch das die Figuren irren konnten. Oder sie strahlten frontal ins Publikum, wodurch sie den Zuschauer förmlich in die Beklemmung sogen.
Die Szenerie wurde in der AD sehr treffend als mondähnlich und ebenso austauschbar wie die Figuren beschrieben.
Jeder ist jeder
Die ohnehin schon recht geringe Zahl an Charakteren in Shelleys Roman wurde durch das hier gewählte Ensemble nochmal reduziert. Nur eine Schauspielerin und zwei Schauspieler sind in diesem Stück zu erleben. Doch nun kommt die riesige Herausforderung für die Live-Beschreibung: Jede/r spielt jede Figur und alle tragen Kunststoffglatzen und dieselbe Alltagskleidung. Die Existenzen verschwimmen in einem fluiden Wechsel und laut AD sind die Spielenden nur durch Statur und Mimik zu unterscheiden. Meist spielt Alexander Khuon den Erschaffer der Kreatur, Felix Goeser das Monster und Maren Eggert Frankensteins Cousine Elisabeth. Nur sie spielt zusätzlich die Schöpferin aller Figuren selbst – Mary Shelley, die in einer Art Reflexionsebene immer wieder zwischengeschaltet wird.
An Stellen, wo auch das sehende Publikum nicht begreifen soll, wer gerade wen verkörpert, wählt Charlotte Miggel in ihrer fantastischen Beschreibung nur die Nachnamen der Spielenden anstatt der Figurenbezeichnungen. Ich traue mich fast zu sagen, dass die seheingeschränkten Zuhörer*innen hier und da sogar leicht im Vorteil sein könnten, da Charlotte meistens angibt, wer gerade wen spielt. Dies zu erkennen, verlangt sicherlich auch von sehenden Personen höchste Aufmerksamkeit. Daher verdient Charlottes Professionalität großen Respekt!
Philosophischer Diskurs statt gewöhnlicher Plot
Ich muss gestehen, dass ich zunächst etwas enttäuscht war, als die Einleitung verriet, dass das Monster in erster Linie durch einen über den Kopf gezogenen Jutesack dargestellt wird. Was hätte es nicht alles für spannendere Möglilchkeiten gegeben!
Im Laufe des Stücks begriff ich jedoch die Sinnhaftigkeit dieses Mittels: Nicht immer trug das Monster den Sack, sondern er wurde nur benutzt, um hier und da zu verdeutlichen, wer gerade die orientierungslose Kreatur spielt und die Frage nach Identität wurde unterstrichen. Das erleichterte das Zuhören ein wenig. Es war grundsätzlich sehr anstrengend, dem Stück zu folgen. Wie schon angekündigt, wurde die Handlung des Romans nicht klassisch wiedergegeben, sondern sehr abstrakt in anspruchsvollen Gedankengängen der Figuren abgehandelt.
Manchmal machten die Personen synchrone Bewegungen, sprachen gleichzeitig oder führten Sätze abwechselnd fort – ein Außerkraftsetzen jeglicher Persönlichkeit.
Gekonnte Umsetzung auf allen Ebenen
Besonders beeindruckten mich die Passagen, in denen die vom Schöpfer verstoßene Kreatur ohne Erinnerung und Bewusstsein die Kälte der Welt erfährt, ehe sie erst dadurch vom verlassenen Opfer zum eigentlichen Monster wird. In diesem Stadium ihrer Entwicklung stößt die Kreatur unkontrollierte Laute aus und bewegt sich zuckend und unbeholfen über die Bühne, was hervorragend gespielt und großartig beschrieben wird. Gekonnt nutzen die Spielenden die technische Bühnenausstattung wie die Drehbühne und die Liveaufzeichnung einiger Sequenzen, die dann im Großformat als Projektion wiedergegeben werden. Dies verstärkt nochmals die schizophrene Grundstimmung. Das Stück erlaubt sich einige Abweichungen vom Roman, wobei zum Beispiel eine kleine Liebesgeschichte zwischen dem Monster und Elisabeth gestreift wird, die sich als Einzige der Kreatur annimmt und ihr das Sprechen und Klavierspielen beibringt. Hier seien auch noch Maren Eggerts bemerkenswerte Fähigkeiten am Flügel hervorgehoben!
Am Ende des Stücks konnte mensch sehr gut die Entwicklung von Empfindungen der Kreatur nachvollziehen, die plötzlich entsetzt über den Tod ihres Schöpfers ist, der zugleich sein Antagonist wie sein Vater war und mit dem er Hass und Einsamkeit gleichermaßen teilte.
Charlotte brachte alle beschreibenden Elemente durch ihr sauberes Timing toll unter. Wenn ich auch bei weitem nicht alle hochintelligenten Aussagen des Stückes bei einmaligem Hören verarbeiten konnte, war der Denkanstroß doch klar: Wir alle sind Schöpfer, sind Opfer und können duch die Monstrosität der Gesellschaft selbst zum Monster werden. Ich darf Mary Shelleys Schlusssatz zitieren:
Und nun wünsche ich meinem bösartigen Sprössling aufs Neue alles Gute auf seinen Wegen. Glauben Sie mir, Sie werden die Werke des Monsters sehen. Ist es einmal erschaffen, kann man es nicht ungeschaffen machen. Was der Welt widerfahren wird, hat schon begonnen.
Mary Shelley
Die nächste Vorstellung
Die nächste – und zugleich allerletzte – Vorstellung von „Frankenstein“ findet am 23. Dezember 2022 um 19 Uhr 30 im Deutschen Theater Berlin statt. Ihr könnt eure Karten bestellen unter service@deutschestheater.de oder telefonisch unter 030 / 28 44 12 21.
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