Wer würde sich nicht gerne einmal wünschen, eine Situation mit Abstand noch einmal wiederholen zu können? Rückblickend gibt es bestimmt einige Situationen, in denen ich mir gewünscht hätte, anders reagiert zu haben. Anstatt in der Schule eine Antwort zurückzuhalten, weil sie falsch hätte sein können, hätte ich sie voller Selbstbewusstsein gegeben. Vielleicht hätte ich an einem Abend weniger getrunken oder an einem anderem nettere Worte gesprochen. In diesem Leben können wir solche Situationen zwar nicht wiederholen, im Theater geht das durchaus. In Jasmina Rezas Stück „Drei Mal Leben“ im Berliner Ensemble durchlaufen vier Menschen, zwei Ehepaare, denselben Abend dreimal. Henri, ein erfolgloser Astrophysiker, will nach Jahren seinen ersten Artikel veröffentlichen. Um seiner Karriere auf die Sprünge zu helfen, lädt er den weitaus erfolgreicheren Hubert und seine Frau Ines zu sich und seiner Frau Sonja nach Hause ein. Das Problem: Das Paar kommt einen Tag früher als gedacht und erwischt die beiden im Schlafanzug. Dreimal sehen wir daraufhin das gleiche Szenario mit leichten Veränderungen.
Ohne Tastführung bleiben Details verborgen
Charlotte Miggel spricht die Audiodeskription von „Drei Mal Leben“. Nachdem das Stück ursprünglich im Frühjahr 2020 mit Audiodeskription gezeigt werden sollte, erlebt es jetzt eine späte Wiederholung. Und es haben sich einige Dinge geändert. So berichtet Charlotte, dass das Stück zwanzig Minuten kürzer ist, als die ursprüngliche Version, auf die sie sich vor nun gut zwei Jahren vorbereitet hatte. Charlotte warnt zwar, dass es wegen dieser Veränderungen womöglich zu Übersprechern ihrerseits kommen könnte. Davon merke ich während des Stücks allerdings nicht viel. Mein Lieblingsmoment ist, als Charlotte wegen des heulenden Kindes, das sich stark nach einer Sirene anhört, selbst ein Lachen in der Stimme hat.
Das Bühnenbild besteht aus zwei Drehscheiben, eines vorne rechts, eine hinten links. Die hintere verfügt darüber hinaus über einen Ring, der sich wie eine Umlaufbahn selbstständig dreht. Ich kann mir den Aufbau einigermaßen vorstellen. Wie sich die Charaktere über die Bühne bewegen, wann sie wo genau sind und vor allem, wie es aussieht, wenn sich die Drehscheiben langsam mit den Charakteren um sich selbst drehen, davon bekomme ich so gut wie gar nichts mit. Von den Kostümen merke ich mir vor allem Sonjas Schlafanzug und Ines‘ Strumpfhose, weil sie jedes Mal eine Laufmasche hat. Ohne die Tastführung bleiben Details für mich abstrakt, besonders die Bühne, die so wichtig für die Stimmung des Stücks zu sein scheint.
Es beginnt mit Lachern und endet in Wiederholungen
Das Stück geht los und zwar mit einigen Lachern. Sonja sitzt auf der Couch und blättert in einem Aktenordner. Ein sich immer wieder wiederholender Dialog zwischen ihr und Henri beginnt. Henri will ihrem Sohn einen Keks geben, Sonja sagt nein. Sie streiten sich. Das Kind heult im Hintergrund. Sonja schreit. Jedes Mal, wenn sie nach hinten im Dunkeln der Bühne verschwindet, um zu ihrem Sohn zu gehen, fängt dieser wieder an zu weinen. Der Saal lacht. Insgesamt ist der erste Durchlauf des Abends bei Weitem der lustigste. Alles ist noch neue. Ich weiß nicht, was passiert, wie die Paare aufeinander reagieren und wie sie auseinandergehen. Nach dem ersten katastrophalen Zusammenstoß, währenddessen Hubert Henri von einem anderen Artikel erzählt, der genau wie Henris zu sein scheint, bricht Henri psychisch zusammen. Den restlichen Abend wird diskutiert, warum Hubert Henri die Nachricht auf diese Weise mitgeteilt hat.
In den nächsten Durchgängen ändert sich vor allem Henris Verhalten. Im zweiten Durchgang reagiert er mit Wut auf Huberts Mitteilung und wirft ihn, der sich ständig an Sonja heranmacht und Ines, die sich ständig an Henri heranmacht, letztlich aus der Wohnung. Im dritten Durchlauf dasselbe, nur macht Hubert Sonja noch offensichtlichere Avancen. Henri reagiert indes gelassen auf die Mitteilung, denn er hat bereits die Initiative ergriffen und herausgefunden, dass der andere Artikel sich um ein anderes Thema dreht. Der Abend endet fröhlich.
Ungefähr ab der Mitte des zweiten Durchgangs nehmen die Lacher merklich ab. Die Überraschung des Abends ist weg, und es gelingt der Inszenierung leider nicht, die Spannung und den Humor wieder einzufangen. Es bleibt ein amüsantes, aber leider auch etwas langatmiges Stück.
Warum spielt das Stück nicht in der heutigen Zeit?
Es ist ein unterhaltsamer Abend. Leider ist mir nicht klar, warum das Stück nicht etwas modernisiert wurde. Die Charaktere verwenden Klapp-Handys und lesen statt auf Tablets, in Aktenordnern. Einen guten Grund dafür scheint es nicht zu geben. Ebenfalls verwirrend finde ich, dass das Stück nicht mehr lokal angepasst wurde. Statt den Stadtteilen von Paris hätte es auch eine deutsche Stadt sein können. Statt die Namen französisch auszusprechen, hätte man sie auch deutsch aussprechen können. Statt ein unbekanntes französisches Kinderhörspiel zu nehmen, hätte man auch Bibi Blocksberg nehmen können. Mir ist nicht klar, warum das Französische wichtig für die Geschichte ist.
Insgesamt kann ich die Inszenierung weiterempfehlen. Es sorgt für Lacher und selbst gegen Ende hin kann man noch über den hochmütigen Hubert, die enigmatische Sonja, die laufmaschige Ines und den immer selbstbewusster werdenden Henri schmunzeln. Charlotte macht ihre Sache gut und spricht, trotz ihrer Ankündigung, fast nie über die Dialoge. Wenn das Stück jetzt noch eine Tastführung bekommt, ist bin ich vollends begeistert.
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