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„Deep Dancing“: Ein Ball mit Brüsten, Händen und Fingern

Posted in Theaterrezension

Wie oft hat man heutzutage die Gelegenheit, auf einen Ball zu gehen? Mein letzter Ball ist auf jeden Fall schon etwas länger her. Deshalb nehme ich die Einladung der Künstlerinnen und Künstler von Chicks* zu „Deep Dancing“ gerne an. Mich lockt das Angebot, einer Eins-zu-eins-Performance, und ich hoffe, nicht nur Zuschauerin, sondern auch Mitmachende zu sein. Die Performance findet gleichzeitig in vier Räumen nebeneinander statt – ein Raum mit aufgeblasenen Sitzmuscheln und einem Planschbecken, ein Raum mit Kissen in Form von Vulven, ein Raum mit einer Kiste voller Spielzeuge mit Behinderung, darunter eine Barbie im Rollstuhl und ein Raum mit einem gedeckten Tisch und pinken Gymnastikbällen. In der Mitte ist eine riesige Plüschtorte mit einer Kirsche. Die Performance für blinde und sehbehinderte Gäste findet im Raum mit dem gedeckten Tisch statt. Es steht mir ein sehr intimer Tanz bevor.

Willkommen zum queerfeministischen Ball

„Hallo, ich bin Simone, und ich bin heute deine Begleitung.“

Ungefähr so stellt die Performerin sich mir im Foyer der Sophiensäle vor. Sie trägt ein Ballkleid aus pinkem Tüll mit Blumen in Form von Vulven. Der Rock des Kleides ist so voluminös, dass sie kaum durch die Tür passt. Im Schlepptau hat sie ein ziehbares Plastikpferd. Ich habe die Wahl an ihrem Arm oder auf dem Pferd sitzend den Raum zu betreten. Ich wähle ihren Arm. Zu Beginn erklärt uns die Kirsche auf der riesigen Plüschtorte die Regeln. Maske auf und Pause rufen, falls gewünscht.

Danach führt mich Simone in ein Separee. Dort befindet sich ein Tisch mit einem Plastiktischtuch. Darauf ist angeschnittenes Obst angerichtet sowie Besteck und Servietten ausgelegt. Später stelle ich fest, dass das Tischtuch außerdem mit Wasser bedeckt ist. Ich darf mich setzen und der Ball geht los.

Mit Brüsten Walzer tanzen

Der erste Anhaltspunkt, dass dies ein grenzüberschreitender Abend für mich werden könnte, bekomme ich, als Simone mit ihren Brüsten Walzer tanzt. Sie steht dabei unter einem Rosenbogen, der mit einer Lichterkette beleuchtet ist. Sie beschreibt, wie ihre Brüste sich drehen, sich aufeinander zubewegen und im Takt der Musik hüpfen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie Brüste einen so immensen Bewegungsspielraum haben können. An dieser Stelle hätten mir Silikonbrüste zum Selbermittanzen weitergeholfen. Wäre ich mutiger, hätte ich natürlich auch selbst mit meinen Brüsten Walzer tanzen können, aber für heute bleibe ich obenherum fest verpackt.

Führen oder geführt werden?

Nach der ersten Tanzeinlage geht es um die Frage: Führen oder geführt werden? Im traditionellen Paartanz führt der Mann und die Frau folgt. Dass es auch anders geht und die Führung oft nur eine Frage ist, wo man anfängt, lerne ich im Folgenden. Als Blinde bin ich es gewöhnt, geführt zu werden. Trotzdem fällt es mir oft schwer, die Kontrolle vollkommen aufzugeben. Ich möchte immer wissen, wo wir sind, wo wir hingehen und wenn möglich, auch bestimmen, welchen Weg wir gehen. Geführt werden erfordert Vertrauen, Führen erfordert Verantwortung.

Der interaktive Teil beginnt

Wir setzen uns an den Tisch. Simone und ich tragen Kopfhörer und sprechen in Mikros, damit wir uns über den Lärm der anderen Räume hinweg, hören können. Nun beginnt der interaktive Teil. Vor mir liegen links eine Gabel, rechts ein Messer, oben ein Löffel, unten eine Serviette. Wir tanzen Walzer mit den Händen. Linke Hand auf die Gabel, rechte Hand auf den Löffel, linke Hand auf den Löffel, rechte Hand auf das Messer, linke Hand auf die Serviette, rechte Hand auf die Serviette. Zuerst übernimmt Simone die Führung und erklärt Gott sei Dank immer, wohin ich meine Hände legen soll. Später übernehme ich die Führung. Meine Hände klatschen auf die Serviette, die inzwischen mit Wasser vollgesogen ist.

Der anspruchsvolle Teil beginnt, als wir von Händen zu Fingern übergehen. Die Zeige- und Mittelfinger meiner Hände tanzen Walzer zusammen. Ich komme mir ehrlich gesagt so vor, als würde ich eher über die Tanzfläche stampfen als elegant gleiten, aber zumindest wackelt die Tischplatte nicht.

Unwohlsein als etwas Positives

Bis hierhin läuft es ganz gut. Dann leitet mich Simone an und beschreibt mir in allen Einzelheiten die Bestandteile der Vulva und Vagina. Ich fahre dabei jede Einzelheit, die sie beschreibt, mit meinen Fingern auf der Tischplatte nach. Ich muss zugeben, dass mir das sehr unangenehm ist. Tatsächlich bricht die Performance mit Tabus und überschreitet Grenzen, jedenfalls meine. Ich fühle mich unwohl, nehme das Unwohlsein allerdings als etwas Positives an. Über weibliche Lust, und den Aufbau der weiblichen Geschlechtsteile wird selten im Einzelnen gesprochen. Das ist schade, denn das Stillschweigen endet in Scham und die Scham in Unwissen. Wer weiß zum Beispiel, dass das Jungfernhäutchen eigentlich den Eingang der Vagina nur wie ein Ring umschließt und selbst nach dem ersten Mal nicht einfach durchstoßen wird oder verschwindet?

Erforschen mit dem Mund

Zuletzt nimmt sich Simone eine Zitrone und beschreibt mir, wie sie sie mit ihrer Zunge erforscht. Sie bietet mir an, diesen Teil zu leiten. Allerdings kann ich mich nicht überwinden. Sie leckt, saugt, küsst und knabbert. Dieser Teil ist für mich intimer als alles andere davor. Die Performance endet mit dem Lied „Time of my life“, dass wir zusammen singen.

Bewegen und bewegt werden

Eine derart interaktive Performance habe ich seit „(In)Visible“ nicht erlebt. Ich habe heute Grenzen überschritten. Wer sich nicht davor fürchtet, sich seiner eigenen Scham zu stellen, wird bei „Deep Dancing“ definitiv auf ihre und seine Kosten kommen. Was die Einbeziehung der Audiodeskription in die Performance angeht, kann ich nur applaudieren. Abgesehen von dem Brustwalzer, wo ich mir mehr Beteiligung gewünscht hätte, konnte ich Simones Anleitung gut folgen. Ich war mit beiden Händen an der Gestaltung der Performance beteiligt. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass ich mich als ein wichtiger Teil der Performance wahrgenommen habe und deshalb mein Verständnis essentiell für den Verlauf der Performance war. Ich konnte berühren, mich bewegen, nachfragen und wenn ich gewollt hätte, hätte ich sogar schmecken können. Ich war die ganze Zeit aufmerksam und voll dabei. Genau das wünsche ich mir als blinde Zuschauerin von einer Performance, bewegt zu werden und mich selbst zu bewegen. Dafür nehme ich selbst einen roten Kopf gerne in Kauf.

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