„Kommt mal klar mit Euren Narrativen“
„Die Jungfrau von Orléans“ ist ein Klassiker, ebenso wie der Mann, der dieses Drama geschrieben hat. Friedrich Schillers Johanna ist stark, gläubig, selbstbewusst und unumstößlich in ihrem Glauben, Frankreich retten zu können. Sie zeigt gegenüber den englischen Truppen keine Gnade und flößt der französischen Seite Mut ein. Doch dann verliebt sie sich in einen Engländer, schont ihn, wird schließlich gefangen genommen und stirbt im Kampf gegen die Engländer als Heldin.
Auf dem 59. Theatertreffen bekommen wir eine etwas andere Version des Stücks zu sehen. Unter der Regie von Ewelina Marciniak entsteht zuerst am Nationaltheater Mannheim und am 10. Mai 2022 im Haus der Berliner Festspiele eine feministische Version des Stücks, in der Johanna die männliche Perspektive auf ihre Figur in Frage zu stellen und abzuschütteln versucht. Schillers Werk ist in einzelnen Passagen noch wiederzuerkennen, wird allerdings durchwoben mit einem kritischen Blick auf die Figur der Johanna in einem männlich verklärten Narrativ.
Eine heitere Tastführung
Die Stimmung ist heiter, besonders unter denjenigen, die zwei Stunden vor Stückbeginn an einer Tastführung teilnehmen dürfen, zu der ein Dramaturg, eine Kostümdesignerin und die Audiodeskriptorin Charlotte Miggel anwesend sind. Die Bühne ist zweigeteilt. Links steht ein L-förmiges Sofa, das genügend Platz für zwei Fußballmannschaften gelassen hätte. Dahinter ist eine lachsfarbene gewellte Wand mit einem roten Ölgemälde. Rechts ist ein ebenfalls L-förmiges Becken, in dem die Schauspielerinnen und Schauspieler während des Stücks immer wieder herumplanschen. Mein Highlight ist eine merkwürdige Konstruktion, die Charlotte als Kissenberg bezeichnet. Die „Kissen“ sind aus Pappmaschee und teils mit Stoff oder Plüsch bezogen, teils haben sie kleine Äderchen, teils glatt. Sie wirken willkürlich aufeinandergestapelt und sind in Pastelltönen gehalten. Alles in allem erinnert es mich an eine riesige Steinmauer, die wohl zwei Meter hoch ist. Sie wird für die Scheiterhaufen-Szene verwendet, wo sich Hände und Füße durch die Löcher schieben und nach Johanna greifen. Es ist eine Freude, die Bühne begehen zu können und mit dem Dramaturgen und der Kostümdesignerin zu sprechen. Wir halten die schwere metallbesetzte Jacke Johannas in den Händen, ihr herzförmiges Kleid, die Seidenjacke und die Krone von Königin Isabeau sowie den Rock der Mätresse Agnes. Von einem Dramaturgen erfahren wir, wie schwierig es war, in Mannheim als Schillerstadt eine alternative Interpretation des Klassikers zu etablieren, und dass die Einladung zum Theatertreffen dazu beigetragen hat, auch die Mannheimerinnen und Mannheimer ins Theater zu locken.
Video statt Live-Vorstellung
In nahezu letzter Minute muss sich das Mannheimer Ensemble für einen Mix aus Streaming und Live-Schauspiel entscheiden. Einer der Schauspieler ist an Corona erkrankt. Deshalb werden ca. neunzig Minuten des Stücks als Videoaufnahme im Theatersaal gezeigt und nur die letzten dreißig Minuten als Live-Vorstellung. Trotz dieser Änderung ist das Haus der Berliner Festspiele an diesem Abend proppenvoll.
Die Umstellung auf Video bedeutet auch eine Umstellung für die AudiodeskriptorIn. Eine Aufgabe, die Charlotte mit Bravour meistert. Ein paar Mal spricht sie über die Dialoge, aber in der Regel verschmilzt ihre Beschreibung mit dem Stück.
Ein schneller Wechsel
Das Stück springt meinem Empfinden nach schnell von Figur zu Figur und von Szene zu Szene. Erst lehnt Johanna die Anweisungen ihres Vaters, sich doch zu verheiraten ab. Dann erlangt sie einen Helm und wir befinden uns plötzlich am französischen Hof, wo die Höflinge eine Technoparty im Planschbecken veranstalten. Königin Isabeau begegnet ihrem Sohn König Karl mit Verachtung. Dieser ist resigniert und interessiert sich eigentlich nur für seine Mätresse Agnes. Agnes‘ mädchenhafte Stimme ist nervenzerreißend. Es scheint, als würde sie ihre Stimme absichtlich kindlich halten, um von Karl bewundert zu werden.
Am Hof taucht plötzlich Johanna auf und bietet Karl ihre Hilfe an. Dann ein Bericht von La Hire , indem Johannas Kühnheit im Kampf gepriesen wird. Dann stehen sich Engländer und Franzosen gegenüber. Die Engländer sind in Tattoo-Shirts und Kilt gekleidet und treten zu Metal-Musik auf.
Mehr als nur eine Jungfrau
Spannend ist der Konflikt zwischen Talbot und Johanna. Der ältere Schauspieler fragt sie provokant, was sie in ihrem jungen Alter zu sagen hat. Sie stellt daraufhin in Frage, was er in seinem hohen Alter zu sagen hat, was er nicht aus erlernten Schubladen hervorkramt. Dieser Konflikt zwischen Jung und Alt, Frau und Mann spiegelt meiner Meinung nach perfekt den Konflikt des Stücks wider: Eine junge Frau, eine Jungfrau, die nur auf ihren Glauben und ihrer Jungfräulichkeit baut, stellt sich Männern mit Erfahrung im Kampf und im Leben entgegen. Was hat sie zu sagen?
Die Tragödie in Gestalt des Vaters
Die Tragödie kommt in Gestalt von Johannas Vater Tibaut. Er klagt seine eigene Tochter vor dem versammelten königlichen Hof als Hexe an und will für die Errettung ihrer Seele ihren Körper gerne zugrunde gehen lassen. Hier weicht das Stück von Schiller ab, denn Johanna stirbt nicht in der Schlacht. Sie wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Diese Stelle wird nicht mehr als Stream, sondern live gezeigt. Der Kissenberg ist hell erleuchtet. Ich erwarte, Hände beschrieben zu bekommen. Da kommt aber nichts. Das finde ich sehr enttäuschend, weil ich auf diese Szene besonders gespannt war. Charlotte beschreibt keine einzige Hand, die aus dem Kissenberg nach Johanna greift. Erst später erfahre ich von meiner Begleitung, dass nur wenige Hände nach Johanna gegriffen haben.
Es gibt keine wahre Johanna
Das Ende des Stücks beeindruckt mich am meisten. Die Schauspieler tragen Statements von berühmten männlichen Persönlichkeiten und ihren Blick auf Johanna von Orléans vor – Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Alexandre Dumas. Sie alle halten Jeanne d‘Arc für hysterisch. In einem Monolog erklärt Johanna, warum sie in dieser Inszenierung auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Schiller nimmt ihr ein Jahr ihres Lebens, indem er sie auf dem Schlachtfeld sterben lässt. „Ein Jahr ist kostbar“, sagt Johanna. Der Monolog ist etwas langatmig, aber darauf folgt ein Gespräch zwischen der unsicher erscheinenden Johanna-Darstellerin Annemarie Brüntjen und einer ehemaligen, inzwischen älteren Johanna-Darstellerin Ragna Pitoll, wo Erfahrungen weitergegeben und Mut gemacht wird. Die wahre Johanna zu finden ist nicht möglich, die historisch und literarisch verklärte Figur in Frage zu stellen schon.
Genau das ist der Inszenierung gelungen, so pathetisch mir die Dialoge auch manches Mal vorkommen, es gelingt ihr, Fragen in mir aufzuwerfen: Welche Bedeutung haben Figuren wie die von Schiller beschriebene Johanna heute? Warum wird sie von männlichen Dichtern und Denkern als hysterisch wahrgenommen? Was passiert, wenn sie ihre Jungfräulichkeit verliert? Warum wird Jungfräulichkeit, obwohl man sie medizinisch nicht nachweisen kann, überhaupt als Stärke wahrgenommen? Was bleibt von Johanna, wenn sie sich verliebt? Auf diese Weise möchte ich immer Theatersäle verlassen – mit einigen Antworten und noch mehr Fragen.
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