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Mehr als nur Audiodeskription: Interview mit Gerald Pirner

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Immer wieder eine Herausforderung ist die Beschreibung von Bewegungen. Das gilt insbesondere für abstrakte Tanz-Performances. Gerald Pirner ist blinder Fotograf und Co-Autor für Audiodeskriptionen von Tanz-Performances. Wie Audiodeskription in der freien Szene in Berlin funktioniert und was man ändern sollte, um mehr blinde und sehbehinderte Zuschauerinnen und Zuschauer für Tanz zu begeistern, erklärt er in einem Interview.

Der Weg zum Tanz

Jeder kommt auf seine oder ihre Weise zum Tanz. Gerald ist einer der wenigen blinden Tanzliebhaber in Berlin, der regelmäßig zu Performances mit Audiodeskription geht und zwar aus dem Interesse daran, seine eigene Körperlichkeit als Blinder in den Bewegungen anderer und der Audiodeskription wiederzuentdecken.

Gerald: Was mich als Blinden anspricht ist tatsächlich die Bewegung. Ich habe früher selber gespielt und habe Workshops u.a. bei Jerzy Grotowski, bei George Tabori und The Living Theater gemacht. Ich wollte eigentlich Schauspieler werden. Das ist auch ein bisschen Wehmut, die damit hineinspielt. Die Initialzündung für meine Beschäftigung mit Tanz war, dass ich über Tanz geschrieben habe, unter anderem auch über den Choreografen und Tänzer Jess Curtis. Vor fünf Jahren habe ich ihn in einem Stück mit Claire Cunningham gesehen. Sie geht auf Krücken und hat Liebeserklärungen an ihre Krücken gemeinsam mit Jess inszeniert. Es war ein sehr queerer Abend und es gefiel mir alles sehr gut. Dann hatte ich mich mit Jess und Claire unterhalten und habe über ihre Performance einen Text geschrieben. Ein paar Jahre später hat Jess mich gefragt, ob ich bei ihm als Berater arbeiten will. Ich war bei der Produktion von „(in)Visible“ dabei. Da bin ich von vorneherein anders hineingekommen, als wenn ich es nur als Rezipient angeguckt hätte. Das war die Initialzündung.

Co-Autorenschaft

Gerald arbeitet unter anderem als Co-Autor von Audiodeskriptionen in der freien Szene. Woran es hier noch mangelt, sind Leitlinien für die Erstellung einer Audiodeskription.

Gerald: Der Grund für die Audiodeskription ist, dass man die Blinden in das Stück hineinzieht. Es geht darum, Leitlinien für die Audiodeskription aufzustellen, weil man mit jeder Performance anders umgehen muss. Man muss für jede Performance eine vollkommen andere Art der Beschreibung entwickeln. Zum Beispiel habe ich zusammen mit Felix Koch die Audiodeskription für eine Performance von James Batchelor gemacht. Den Film hatte ich mir im Voraus von meiner Arbeitsassistentin beschreiben lassen. Von daher hatte ich schon meine Einstimmungen in die Bewegungen und war erst einmal entsetzt, wie Felix die Audiodeskription umgesetzt hat. Das war viel zu abstrakt und lang. Wir haben das diskutiert, aber dann hat er mir die Audiodeskription vorgetragen und ich war vollkommen hin und weg. Er hat diesen trockenen mathematischen Text ins Schwingen gebracht.

Das interessiert Blinde nicht

Die Gruppe der blinden und sehbehinderten Tanzliebhaberinnen und -liebhaber ist in Berlin überschaubar. Immer wieder trifft man auf dieselben ein oder zwei Leute, die dann aber auch mit Begeisterung dabei sind. Gerald zufolge ist Tanz bei Blinden, zumindest im Augenblick, noch nicht beliebt.

Gerald: Es ist etwas, was sich die Blinden nicht so gut vorstellen können. Sie denken, das geht zu sehr von Bildern aus. Ich habe einen Text über Tanz und Audiodeskription geschrieben, um das Interesse von Blinden zu wecken. Was du als Blinder in einer Performance erlebst, hat etwas mit dir zu tun. Es kommt letztlich ohne Bilder aus, lässt dich deinen Körper durch Tanz vollkommen neu spüren. Vielleicht hat es sogar etwas mit den Bildern zu tun, die du vor deiner Erblindung gesehen hast. Ich gehe immer von Erblindeten aus, weil ich mich in Geburtsblinde schwierig hineinversetzen kann. Ich habe eine geburtsblinde Freundin, die mit dem Begriff „Hintergrund“ gar nichts anfangen kann. Das sind Hemmnisse, über die man sich austauschen könnte. ich denke, dass wir alle – die Erblindeten, die Geburtsblinden und die Sehenden – weiterkommen könnten, wenn man sich darüber unterhalten würde, über unsere Bildvorstellungen, Bildinszenierungen, die inneren Bilder, die wir alle haben.

Mehr als nur eine Tastführung

Tastführungen von Performances sind etwas ganz Besonderes. Hier bekommt das blinde Publikum nicht nur die Chance, die Bühne zu begehen und Requisiten zu betasten. Vielmehr geht es darum, Bewegungen nachzuvollziehen. Für Gerald ist die Tastführung weitaus mehr als nur eine Ergänzung der Audiodeskription.

Gerald: Für mich ist Tanz eine Art körperliches Erlebnis. Wenn ich mit Tanz zu tun habe, will ich etwas entwickeln, was über die Audiodeskription hinausgeht. Audiodeskription ist eine dringende Grundlage, für das, was ich erfahren will. Es ist aber letztendlich die „Haptic Access Tour“ (Tastführung), die ich am spannendsten finde – die Haptic Access Tour eingebettet in eine Audiodeskription oder korrespondierend mit ihr. Das fasziniert mich, weil ich darüber selber ganz körperlich hineinkomme. Für mich ist die Hauptdarstellerin in jeder Tanz-Performance weniger die Tänzerin oder der Tänzer. Es ist die Bewegung selber. Die Bewegung ist etwas was nicht leicht zu beschreiben ist. Die Haptic Access Tour stimmt mich ein und bereitet mich wie ein Instrument vor., damit ich mich hinterher in der Audiodeskription wiederfinde und meine eigenen Bilder und Bewegungen entwickle. Ich habe vorher diese Access-Tour gespürt und in dieser Wiedererinnerung der Bewegungen kann ich beides miteinander kommunizieren lassen.

Ich glaube, die Haptic Access Tour sollte einen ganz anderen Stellenwert bekommen. Man muss nicht das ganze Stück durchspielen, aber wenn man das Ganze ausdehnt und zentrale Momente der Bewegungen in die Access-Tour mit hineinnimmt, um die Blinden einzustimmen, fände ich das toll. Da brauchst du also mindestens eine halbe, wenn nicht eine Dreiviertelstunde.

Weg vom Smartphone!

Gerald: Das ist das worauf ich setze. Hey ihr Blinden, ihr seid nicht nur euer Smartphone! Kommt mal weg von euren Geräten! Kommt mal in eure Körper zurück! Lasst uns unsere Blindheit zusammen aus dem Körper heraus ganz anders erleben, uns als Blinde erleben. Das wäre das, was ich den Blinden sagen würde.

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