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Wie sieht „bewegt“ aus?

Posted in Veranstaltungsbericht

Wie sieht ein ansteckendes Lächeln aus? Wie hebt der Performer die Hand, und wie zum Teufel siehst du eigentlich aus? In Tanz und Performance geht es um den Ausdruck durch Bewegungen. Wo sich aber viel bewegt wird, sich also viel visuell vermittelt, muss auch viel für blinde und sehbehinderte Zuschauer*innen beschrieben werden. Oder doch nicht? Was macht eigentlich eine gute Audiodeskription von Tanz aus? Mit dieser Frage beschäftigen sich am 16. Juni 2021 Audiodeskriptor*innen des Berliner Spielplan Audiodeskription und des Schauspiel Leipzig. Der Workshop wird von den Sophiensälen organisiert und findet unter der Anleitung der sehbehinderten Theaterpädagogin Sophia Neises und der Choreografin Xenia Taniko statt.

Wer ist die Zielgruppe der Audiodeskription?

Schon bei der Frage nach der Zielgruppe der Audiodeskription scheinen sich die Geister zu scheiden. Ein Brainstorming ergibt: Blinde und Sehbehinderte jeder Art, aber auch ältere Menschen, Menschen, die die Augen zumachen wollen und sehendes Publikum. Einige davon wollen in der ersten Reihe sitzen, andere etwas weiter hinten, aber nicht vor einem Pfeiler, wieder andere etwas erhöht. Es gibt nicht „das blinde Publikum“, ebenso wenig wie es „das sehende Publikum“ gibt. Die Bedürfnisse sind divers. Letztendlich wirft eine Teilnehmerin ein, dass es darum geht, in der Audiodeskription und dem gesamten inklusiven Theatererlebnis, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Einigkeit herrscht darüber, dass das blinde Publikum ebenso wie das sehende die Wahl haben soll, wie es den Theaterabend gestalten möchte.

Was erwarten wir von Tanzperformances mit Audiodeskription?

Was man als Sehender durch das Betrachten von Tanz erfährt, muss die Audiodeskription mir als Blinde sprachlich vermitteln. Die blinde Audiodeskriptionsautorin Pernille Sonne sagt, dass sie bei einer Tanz-Performance mitbewegt werden möchte. Aber wie funktioniert das? Durch die Beschreibung des rein technischen Ablaufs jedenfalls nicht. Eine Beschreibung wie „er lächelt“, so die Leipziger Audiodeskriptorin Maila Giesder-Pempelforth, sei wenig beschreibend. Wie genau lächelt er? Grinst er hämisch oder freundlich oder schmachtet er sie an? Es gibt eintausend Arten, die Hand zu heben. Deshalb genügt es nicht, in der Audiodeskription zu sagen: „Er hebt die Hand.“ Das ist zwar eine Bewegung, aber sie löst keine emotionale Reaktion aus. Sie bewegt nicht. Und darin sind sich die Teilnehmer*innen einig: Eine Bewegung muss bewegen, berühren und in eine andere Welt eintauchen lassen.

Wie kann man das Abstrakte in Worte fassen?

Im Gegensatz zum Sprechtheater sind Performances in der Regel abstrakt. Sie folgen oft keiner klaren Handlung, sondern sind Collagen aus Tanz, Bewegung, Stimme, Sound, Video und Requisiten. Als nächstes sprechen die Workshopteilnehmer*innen darüber, wie man als blinde Zuschauerin durch die Audiodeskription bewegt werden kann. Zum einen muss die Audiodeskriptorin im Raum sein, damit sie nicht von der Performance losgelöst ist. Zum anderen muss und kann sie subjektiv beschreiben, ohne jedoch Interpretationen vorwegzunehmen. Ein Beispiel wird genannt: „Sie stampft mit ansteckendem Lachen nach vorne.“ Einigen blinden Autor*innen wie Roswitha Röding genügt das Wort „ansteckend“ nicht, um das Gefühl eines ansteckenden Lachens nachzuvollziehen. Sie verstehe, was zum Ausdruck gebracht werden soll, aber die Wortwahl reiche nicht aus, um das Gefühl zu erzeugen. Letztlich wirft Pernille ein, dass die Zuschauer*innen nicht nur durch die Audiodeskription, sondern auch durch die Pausen und den Einsatz von Sound berührt werden können.

It’s all forgotten now

Vor der Mittagspause schauen wir uns einen Ausschnitt aus der Audiodeskription von „It’s all forgotten now“ an. Dazu werden wir in zwei Gruppen geteilt – eine sehende und eine seheingeschränkte Gruppe. Hinterher kommen wir wieder zusammen und vergleichen. Ich bin in der seheingeschränkten Gruppe. Der sehenden Gruppe fällt besonders der Ausdruck „rapide wirft sie“ auf. Sie fragen sich, warum die Audiodeskriptorin nicht „schnell“ genommen hat – ein leichter verständliches Wort. Als die Haare einer Performerin als locker fallend und doch abstehend beschrieben wird, versteht die Gruppe dies als widersprüchlich.
Die blinde und sehbehinderte Gruppe diskutiert derweil, ob „entfremdet“ oder „abwesend“ eindeutiger ist, ob die Wendung „sie rutscht gleitend von rechts nach links“ widersprüchlich ist und welchen Eindruck die Performerin vermittelt, wenn „ihre Augen geschlossen sind“. Auf der anderen Seite lobt die seheingeschränkte Gruppe Wendungen wie „sie bewegt ihren Körper windend und schlängelnd“ und „Gliedmaßen, die wie an Draht hängen“ wegen der Bilder, die sie hervorrufen. Die sehende Gruppe geht strukturierter vor. Sie gehen von Anfang bis Ende jeden Satz durch. Die seheingeschränkte Gruppe geht nicht chronologisch vor, schlägt aber einen weiteren Bogen und hat letztlich auch ein lobendes Wort für die Audiodeskription übrig.

Mehr Zeit für Rücksprache mit Darsteller*innen

Audiodeskriptor*innen von Tanz und Performances legen meiner Erfahrung nach Wert auf die sensible Beschreibung der Performer*innen. Merkmale wie Behinderung, Hautfarbe, Alter und Geschlecht sollen so beschrieben werden, dass die blinden Zuschauer*innen hinterher wissen, wie die Performer*innen aussehen und diese sich mit der Beschreibung wohl fühlen. Deshalb ist es in der Regel so, dass die Performer*innen sich selbst beschreiben. Leider kommt es auf diese Weise zu Beschreibungen wie: „Ich bin nicht mehr die Jüngste.“ Dieselbe Aussage habe ich aber schon sowohl von Dreißigjährigen als auch von Siebzigjährigen gehört. Was ist also die Lösung? Vorschläge variieren. Die Audiodeskriptorin könnte zuerst beschreiben und dann Rücksprache mit den Darsteller*innen halten. Ein anderer Vorschlag wäre, den Darsteller*innen die Tools zu geben, um sich selbst zu beschreiben. Beide Varianten erfordern mehr Zeit für die Erstellung einer Audiodeskription. Zeit bedeutet Geld, und genau das wünscht sich die Audiodeskriptorin Jutta Polic – mehr Geld, um mehr Zeit in die Rücksprache mit den Darsteller*innen zu investieren.

Wünsche für das Baby Audiodeskription

Am Ende des Tages bleibt die Frage, was sich die Teilnehmer*innen von und für das „Baby Audiodeskription“ wünschen. Maila wünscht sich, dass die Autor*innen der Audiodeskription dafür anerkannt werden, dass sie einen kreativen Prozess vollführen, ohne Objektivitätsanspruch, dafür aber mit einer Offenheit für die Wandelbarkeit des Prozesses. Roswitha wünscht sich die Unbefangenheit eines Kindes: dass man nicht nur auf Vorurteile hört, sondern Kontakt zu Betroffenen sucht, beispielsweise Performer*innen anderer Kulturen. Ich selbst wünsche mir vor allem, dass die Audiodeskription mehr und mehr in die Entstehung eines Stückes eingebaut und nicht nur hinterher darübergestülpt wird. Man sieht also: Wir sind zwar am Ende des Workshops angelangt. Das Ende der Kapazitäten von Audiodeskription haben wir noch lange nicht erreicht. Die nächste Spielzeit verspricht, spannend zu werden. Danke, Sophia und Xenia, für einen bewegten Tag!

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