Theater live und mit Publikum? Am 13. Mai 2021 zeigt das Schauspielhaus Zürich eine Live-Vorstellung von „Einfach das Ende der Welt“ mit Audiodeskription . Seit einem Jahr hat sich die Definition von Theater verschoben. Noch vor einem Jahr war Theater auf jeden Fall live, vor Ort und am besten mit einem großen Publikum. Seit einem Jahr ist Theater hauptsächlich aufgenommen und allein zu Haus. Eine richtige Live-Audiodeskription ist eine Seltenheit geworden. Das Theatertreffen ändert das in Zusammenarbeit mit Förderband e.V. „Einfach das Ende der Welt“ soll live gezeigt werden, die Schauspieler*innen im Theater sein und die Audiodeskription live eingesprochen werden. Das Publikum sitzt immer noch allein zu Haus, aber durch das Live-Moment sind wir doch irgendwie miteinander verbunden.
Pornohefte und Tomatensoße
„Einfach das Ende der Welt“ handelt von dem 36-jährigen Benjamin und der Rückkehr zu seiner Familie. Zwölf Jahre hat er seine Schwester Wiebke, seinen Bruder Nils und seine Mutter Ulrike nicht mehr gesehen. Was ihn zurücktreibt, ist eine finale Diagnose. Die erste dreiviertel Stunde verbringt Benjamin damit, sein altes Leben zu zeigen. Ich komme mir teils wie in einem Youtube-Video, teils wie in einer Reality-TV-show vor, als er mit der Handkamera durch die nachgebaute 90er Jahre Wohnung geht und Alltagsgegenstände filmt: ein bunt gestreiftes Sofa, ein Esstisch, Schwämmholz und Muscheln, eine Mottenfalle, Tomatensoße auf dem Herd, Waschschwämme in blau und lachsfarben, Pornohefte und eine Bong in einer Kiste. Benjamin filmt, die Audiodeskriptorin Charlotte Miggel beschreibt, als wollten die beiden sagen: Schaut euch diese Ansammlung an Banalitäten an!
Als Benjamin mit dem Rundgang durch die Wohnung fertig ist, stürmen um die zwanzig Theatermitarbeiter*innen auf die Bühne und reißen die Wohnung ab. Alle tragen Masken.
Einfach banal
Darauf folgt die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Benjamin hält mit der Kamera drauf, als ginge es ihm um weit mehr als sich mit seiner Familie wieder bekannt zu machen. Fast habe ich den Eindruck, seine Familie ist eine Art Kunstprojekt – der natürliche Lebensraum einer stinknormalen Familie. Während sein Bruder Nils ihm reserviert, sogar abweisend begegnet, ist Wiebke begeistert, ihn zu sehen, bis sich seine Einladung an sie, ihn doch mal zu besuchen, als heiße Luft herausstellt.
Wiebke: „Ich habe das Gefühl, dass du, dass ihr [ans Publikum] uns banal findet.“
Benjamin versucht, es abzustreiten, aber als Nils und Wiebke ihn ignorieren, geht er dazwischen, will die Aufmerksamkeit zurück: „Es geht um mich!“ Es ist klar, dass er nicht um seiner Familie willen zurückgekommen ist. Letztendlich wirft er Nils an den Kopf, dass er bald sterben wird. Nils reagiert nicht, will ihm nicht verzeihen. Es geht tatsächlich um das Ende einer Welt. Es geht um eine Familie, die zerrüttet ist und nicht mehr zusammenfinden kann. „Einfach das Ende der Welt“ zeigt auf herzzerreißende Weise, dass eine Entschuldigung und ein möglicherweise tragisches Ende manchmal für Vergebung einfach nicht ausreichen.
Der Weg zum Stream mit Audiodeskription
Obwohl es eine Anleitung zum Stream mit Audiodeskription gibt, ist das Stück schwierig zu finden. Zuerst soll auf einen Link gedrückt werden, dann mehrere Schalter gefunden und schließlich die Audiodeskription angeschaltet werden. Ein einfacher Link zur Audiodeskriptionsfassung wäre einfacher und hätte wahrscheinlich auch dafür gesorgt, dass mehr blinde und sehbehinderte Zuschauer*innen eingeschaltet hätten, statt der ungefähr sechsundzwanzig. Um Zeit zu sparen, lasse ich letztendlich meinen Mann die Audiodeskriptionsfassung abspielen, denn der Stream ist auch erst zehn Minuten vorher abrufbar, zu kurz, um eine Seite mit Screenreader zu erforschen.
Bitte mehr davon!
Als ich Charlottes Stimme klar und deutlich höre, bin ich begeistert. Nicht nur wegen der traumhaften Audio-Qualität, sondern auch, weil ich weiß, dass sie gerade irgendwo in Zürich live einspricht. Man hört es auch an einigen Versprechern. An diesem Abend freue ich mich aber über jedes Wort, das sie noch einmal wiederholt. Versprecher geben mir das Gefühl, live dabei zu sein. Nur manchmal kann ich sie über die an manchen Stellen geradezu episch laute Hintergrundmusik hinweg nicht verstehen. Das ist dann auch der größte Unterschied zur tatsächlichen Live-Beschreibung im Theater: Ich kann die Audiodeskription nicht aufdrehen oder einfach mal aus dem Ohr nehmen, aber zum ersten Mal habe ich in Corona-zeiten eine qualitativ hochwertige Live-Audiodeskription gehört. Bitte mehr davon!
Theater jetzt in diesem Augenblick
Ich musste mir während des Stücks die eine oder andere Träne wegdrücken. Zuerst habe ich Mitleid mit Benjamin – dem Außenseiter, den niemand verstanden hat. Später habe ich Mitleid mit seiner Familie, die er auszustellen versucht. Wirken sie am Anfang noch banal, ihr Leben mit Kindern, Enkelkindern und Jobs vorhersehbar und langweilig, beweisen sie doch, dass vor allem Nils und Wiebke eine enge geschwisterliche Beziehung haben, in die Benjamin nicht mehr hineinpasst und tragischerweise auch nicht mehr hineingelassen wird. Zwar ist meine Internetverbindung viermal abgebrochen, aber das hat dem Stück nicht geschadet. Dass es live war, habe ich hauptsächlich durch Charlottes Beschreibung mitbekommen. Die Chat-Funktion hat mir nur dann etwas genützt, wenn mein Mann mir einige Bemerkungen vorgelesen hat. Einen Austausch des Publikums in den Pausen anzuregen, würde möglicherweise für ein authentischeres Theatererlebnis sorgen. Trotzdem habe ich das Gefühl, wieder einmal im Theater zu sein. Zu Hause schaue ich das Stück nur mit meinem Mann, aber virtuell sitze ich mit hunderten von Zuschauer*innen vor ihren Bildschirmen jetzt in diesem Augenblick.
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