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Faust I mit Audiodeskription

Posted in Theaterrezension

„Faust I“ ist eines der Werke, dem man in Schulzeiten kaum aus dem Weg gehen kann. In unserer Klasse haben wir das Stück nicht nur gelesen, sondern sind auch nach Senftenberg gefahren, um es uns dort anzusehen – damals noch ohne Audiodeskription. Gott und Mephisto schließen eine Wette á la „Wetten, dass“ ab, das unschuldige Gretchen trägt knappe Hotpants und die Walpurgisnacht ist als „Love Parade“ inszeniert. Am 29. April begegnet mir das Stück nach achtzehn Jahren Abstinenz wieder. Diesmal ist es eine Inszenierung des Schauspiel Leipzig mit Enrico Lübbe als Regisseur und natürlich mit Audiodeskription. Meine erste Erfahrung mit „Faust I“ ist amüsant. Die zweite ist eher düster.

Normalerweise dauert es, bevor ich mir die wichtigsten Stimmen eingeprägt habe

Florian Eib spricht die Audiodeskription für das Stück. Er macht seine Sache gut. Das Stück ist kompliziert. Es gibt einen großen Chor, eine Gruppe Frauen beim Waschen und Tratschen, Gesellen, Gretchen und ihr Bruder Valentin, Fausts Freund Wagner und natürlich Faust an sich. Mephisto kommt nicht direkt vor. Stattdessen tauchen vier Abspaltungen von Faust auf, die ihn wie Geister heimsuchen: Sorge, Mangel, Not und Schuld. Hin und wieder steigt Nebel auf. Eine Drehscheibe dreht sich, wird angewinkelt. Darüber zeigt ein großer runder Bildschirm Videoeinblendungen.
Irgendwie gelingt es mir durch Florians Audiodeskription, den Überblick zu behalten. Hilfreich ist seine Einführung. Neben der Kostüm- und Bühnenbeschreibung stellt er auch einige Figuren vor. Dabei werden kurze Szenen mit der jeweiligen Figur eingespielt. Ich finde, das ist eine eindrucksvolle Art, mit den Charakteren bereits im Vorfeld bekannt zu werden. Normalerweise dauert es nämlich eine Weile, bevor ich mir die wichtigsten Stimmen eingeprägt habe und sie wiedererkennen kann. Manchmal gelingt es mir gar nicht, weil sich die Stimmen der SchauspielerInnen zu sehr ähneln.

Faust ist gespalten

Faust ist ein lebensmüder Gelehrter, der sich nach tieferem Wissen sehnt. Der Chor, Wagner und letztendlich seine vier Abspaltungen bombardieren ihn solange mit Ratschlägen, bis er nicht mehr in der Lage ist, eigene Entscheidungen zu treffen. Als er dann das naive Gretchen kennenlernt, verführt er sie, bringt ihre Mutter um und ihren Bruder. Am Ende lässt er sie mit ihrer Schwangerschaft und dem Verlust ihrer Verwandten alleine. Er zieht weiter. Gretchen wird wahnsinnig.
Es scheint eine Spezialität des Schauspiel Leipzig zu sein, seine Figuren aufzuspalten. Schon in der Inszenierung von „Peer Gynt“ in der Regie von Philipp Preuss wird die Hauptfigur auf sechs Darsteller verteilt. Enrico Lübbe lässt Gott und Mephisto weg und setzt dafür die vier Abspaltungen von Faust ein. Wem soll er zuhören? Faust entscheidet sich dafür, die Verantwortung für sein Handeln abzugeben. Er erschafft Sorge, Mangel, Not und Schuld, um keine Verantwortung für sich selbst oder gar Gretchen übernehmen zu müssen. Diese Inszenierung macht um einiges deutlicher, wie sehr wir uns hinter leeren Versprechungen verstecken. Es gibt keinen Mephisto, der einem sich selbst als tugendhaft verstehenden Faust seine eigene Schwäche vor Augen führt. Es ist Faust, der sich selbst verführt.

Der Chor sorgt für Atmosphäre

Noch eine Spezialität des Schauspiel Leipzig scheint der Chor zu sein. In „Faust I“ ist er mal eine Art frommer Kirchenchor mit Glocken im Hintergrund, mal klingt er wie eine Schallplatte mit Sprung, immer die gleichen Wörter wiederholend. Er verleiht Fausts Unwohlsein einen düsteren Effekt. Faust will sein Leben ändern, steckt aber fest und weiß nicht, wie er aus seiner Melancholie herauskommt. Meistens verstehe ich nicht, was der Chor sagt oder singt. Die Aufnahme ist zwar besser als die von „Peer Gynt“, aber deutlich verstehe ich eigentlich nur Florians Audiodeskription. Atmosphärisch finde ich den Chor allerdings fantastisch.

Einmal humorvoll, einmal tragisch

Nun habe ich „Faust I“ zweimal erlebt: Einmal mit, einmal ohne Audiodeskription. Einmal humorvoll, einmal tragisch. Einmal live, einmal aufgenommen. Was diese Inszenierung mehr als die Erste zeigt, ist, wie Gerüchte und Tratsch das Leben eines unschuldigen Mädchens zerstören können. Von ihrem Geliebten verlassen, schwanger und ohne Verwandte in der Welt verliert Gretchen den Verstand. Während sich Faust ungescholten zurückziehen kann, ist Gretchen ausgestoßen. Dass sich Faust nur feige zurückzieht und der Fokus letztendlich auf Gretchens Verwandlung von einem naiven Mädchen in eine wahnsinnige Frau liegt, finde ich fantastisch, obwohl ich mir persönlich natürlich einen Faust wünschen würde, der letztendlich seinen Weg findet. Was aus Faust wird, bleibt nämlich offen.

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