Klein oder groß? Stumm oder singend? Der Zwerg oder der Zwerg? Immer wieder stellt sich den AudiodeskriptorInnen Kathrin Wiermer, Anke Nicolai und Felix Koch die Frage nach dem richtigen Wort. Beschreibend muss es sein, zum Stück muss es passen und politisch korrekt muss es natürlich auch sein. Auf der Bühne und im Ohr hören die blinden und sehbehinderten ZuschauerInnen das fertige Produkt. Wie viel Arbeit dahinter steckt, bleibt den meisten verborgen. Über ZOOM kann ich mich heute einmal einschalten, als Anke, Kathrin und Felix um das richtige Wort ringen. Beschrieben werden soll die Oper „Der Zwerg“.
Der Zwerg und sein Doppelgänger
Ein sehender Audiodeskriptor (Felix) ist für den Text zuständig. Eine sehende (Anke) und eine blinde Redakteurin (Kathrin) nehmen den Text ab. Die Oper „Der Zwerg“ beginnt damit, dass die spanische Thronfolgerin zu ihrem Geburtstag einen Zwerg geschenkt bekommt. Der Zwerg weiß weder, dass er klein noch, dass er hässlich ist. Er verliebt sich in die Prinzessin und wird letztlich von ihr zurückgewiesen. In der Inszenierung der Deutschen Oper, die zwischen dem 8. und 11. April 2021 mit Audiodeskription gelaufen ist, wird der Zwerg von zwei Figuren verkörpert: dem Sänger und seinem kleinwüchsigen, stummen Ebenbild.
Diese Zweiteilung stellt eine Herausforderung für die AudiodeskriptorInnen dar. In der Oper werden beide Figuren als „der Zwerg“ beschrieben. Blinde und sehbehinderte ZuschauerInnen können sich bei dieser Beschreibung aber nicht vorstellen, welche Figur gerade beschrieben wird.
Anke: Es gab die Problematik mit dem Schauspieler, der nicht singt, der kleinwüchsig ist, aber der trotzdem da ist. Was ist das, ist es ein Spiegel des Zwergs oder sein Ebenbild?
Felix: Das ist sein Spiegelbild. Es gibt zwischendurch eine komplette Wand, die runterfährt und die im Spiegel ist. Die wird irgendwann durchleuchtet und dann ist der stumme Zwerg zu sehen.
In der Regie darf es technischer sein
Zwei Darsteller, die zwei Seiten derselben Figur verkörpern: Der eine ist groß, muskulös und singt. Der andere ist kleinwüchsig, stumm und agiert durch Gesten. Aber wie benennt man die Figuren möglichst wertfrei und präzise?
Felix: Ich habe zwischendurch überlegt, Schauspieler im Gegensatz zu Sänger zu sagen.
Katrin: Ich glaube, Schauspieler und Sänger wären mir zu analytisch. Du hast sowieso schon diese doppelten Ebenen, dadurch, dass der eine den anderen spielt und ihm die Stimme verleiht. Wenn man das dann noch mit Labels verbindet, sind wir viel zu wenig im Stück und viel zu sehr in der Analyse. Das nimmt dem Stück den Zauber und die Geschichte, wenn wir da so herausspringen. Wie ist der offizielle Rollenname vom großen Zwerg?
Felix: Zwerg. Es gibt keine unterschiedlichen Rollennamen. In der Originaloper ist es nur eine Rolle. Das findest du auch im Regiebuch. Da steht „Schauspieler“ und „Sänger“. In der Deutschen Oper nennen sie den kleinwüchsigen Schauspieler „Zwerg (Schauspieler)“ und das andere ist der Zwerg. In der Opernperspektive ist Gesang an oberster Stelle.
Katrin: Das ist Regie und das darf natürlich technischer sein, als unsere Beschreibung….
Spiegelbild, Alter Ego oder Singzwerg?
Anke, Kathrin und Felix sind sich einig: Schauspieler und Sänger sind für die Audiodeskription nicht aussagekräftig genug. Die Suche nach der perfekten Beschreibung geht also weiter.
Anke: Oder Alter Ego, geht sowas auch?
Felix: Alter Ego habe ich nicht benutzt. Es ist in der Inszenierung eigentlich die gleiche Person. Aber es gibt zwei Zwerge.
Anke: Spiegelbild ist auch ein schönes Wort.
Felix: Ja, das habe ich auch ein paar Mal benutzt. Das Problem ist: wessen Spiegelbild? Ist der Sänger das Spiegelbild des stummen Zwergs oder anders herum? Es wechselt auch, meiner Meinung nach. Es ist offiziell so: Der Zwerg ist kleinwüchsig, und er ist der, der sich nicht richtig sehen kann. Er ist der Einzige, der denkt, er ist ein großer toller muskulöser Mann, weil er sich nie im Spiegel gesehen hat. Aber das Problem ist, dass ihn auch andere ansingen. Zwischendurch ist auch nur der Sänger-Zwerg auf der Bühne. Der stumme Zwerg, der kleinwüchsige Schauspieler ist eine Viertelstunde lang gar nicht auf der Bühne, sondern es gibt nur den singenden Zwerg. Und dadurch kann man auch nicht von „Spiegelbild“ reden.
Lavinia: Wie wäre es mit Singzwerg?
Felix: Singzwerg, das klingt ein bisschen nach Zipfelmütze. Haha.
Katrin: Zwerg eins und zwei geht auch nicht, weil du irgendwann nicht mehr weißt, wer eins und wer zwei ist.
Wer ist der richtige Zwerg?
Eine Frage, die sich visuell auf einen Blick stellt ist: Wer ist der richtige Zwerg? Die Audiodeskription muss die beiden Figuren so beschreiben, dass sich den nicht-visuellen ZuschauerInnen diese Frage auch stellt. Sie sollen miträtseln können.
Anke: Aber eigentlich ist der Zwerg kleinwüchsig? Es ist doch ein kleinwüchsiger Hofnarr, der dann beschenkt wird? Also wäre der Kleinwüchsige der eigentliche Zwerg?
Felix: Ja. Genau, und der Sänger wäre sein Alter Ego. Aber wenn er eine Viertelstunde alleine auf der Bühne ist…
Anke: Vielleicht ist es dann wirklich der singende Zwerg.
Katrin: Vielleicht muss es gar nicht der stumme Zwerg sein. Vielleicht ist es der Zwerg und der singende Zwerg. Weil „stumm“ wieder eine Einschränkung hat. Das ist keine Behinderung in dem Sinne, aber er ist nicht wirklich stumm, weil er wahrscheinlich gestikuliert und sich anders ausdrückt, eben nicht über Sprache.
Felix: Ja. Ist das dann auch die Definition von stumm? Soweit habe ich gar nicht gedacht. Stimmt, wenn er gar nicht kommunizieren würde, dann…
Katrin: Dann wäre er nur Leinwand oder Platzhalter. Aber ist er ja nicht. Er agiert, aber er spricht oder singt nicht.
Felix: Genau, ihm wird die Stimme verliehen: Der Zwerg und der singende Zwerg.
Katrin: Ich habe bei br-klassik noch etwas gefunden. Da haben sie auch „der singende Zwerg“ als Formulierung und dann sagen sie aber, dass der Zwerg zweigeteilt ist – nämlich ein kleinwüchsiger Darsteller und seine Stimme. Das einzuführen, ist sehr esoterisch.
Felix: Die Stimme erscheint links, haha.
Die Audiodeskriptorin denkt an tausend Sachen
Stumm oder singend, das ist die Frage. Worüber ich mir nach meinem kurzen Blick hinter die Kulissen einer Audiodeskription immerhin sicher bin, ist der Aufwand, der hinter jedem Wort steckt. Die AudiodeskriptorInnen schauen sich nicht nur das Stück an und fangen prompt mit der Beschreibung an. Sie lesen das Regiebuch, lesen Rezensionen, konsultieren die Dramaturgen und machen sich Gedanken über das Timing, die Wertfreiheit und die Audiodeskription im Kontext des Stücks. All das wird hinterher noch einmal von sehenden und blinden/sehbehinderten RedakteurInnen geprüft. Das Einsprechen ist der letzte und so wie es sich anhört, am wenigsten aufwändige Schritt der Audiodeskription.
Der zweite Teil dieses „Hinter den Kulissen“-Beitrags erscheint demnächst als Blogbeitrag. Darin stellt sich die Frage nach der politischen Korrektheit, die bei der Formulierung einer Audiodeskription auch mitgedacht werden muss. Was ist wichtiger: Beschreibung oder Wertfreiheit? Mehr dazu demnächst in eurem Theaterblog!
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