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Tanz zu abstrakt für Blinde?

Posted in Theaterrezension

Ist Tanz zu abstrakt, um für jemanden, der schlecht oder gar nichts sieht, verständlich beschrieben zu werden? Das frage ich mich, als ich mir „It’s all forgotten now“ von der Kompanie Christoph Winkler anhöre. Die Performance wurde im November als Tanzfilm aufgenommen und steht jetzt als Version mit Audiodeskription auf der Vimeo-Seite der Sophiensäle zur Verfügung. Es soll eine Art Mix-Tape darstellen, eine Hommage an den Popkultur- und Kapitalismuskritiker Mark Fisher, der sich 2017 das Leben genommen hat. Die Performance ist komplex, und obwohl viele Bewegungen der TänzerInnen von der Audiodeskriptorin Xenia Taniko in Sprache übersetzt werden, bleibt ihr Sinn und damit das Stück für mich abstrakt.

Es gibt keine Zukunft mehr

Mark Fisher beschäftigte sich mit Konzepten wie der „Hauntology“, eine Zusammensetzung aus dem englischen Wort „haunt“ (heimsuchen) und Ontologie. Damit sind Ideen aus der Vergangenheit gemeint, die die Gegenwart wie Geister heimsuchen. Fisher bezieht dieses Konzept unter anderem auf moderne Popmusik, die ihm zufolge seit den 1990er Jahren nur noch aus früheren Jahrzehnten kopiert, aber selbst nichts Revolutionäres mehr hervorbringt. Schuld hat ihm zufolge der Kapitalismus, dessen einziger Zweck die Erschaffung von Geld ist. Es gibt keine Zukunft mehr, denn der Kapitalismus beschäftigt sich mit dem Konsum von Ressourcen, nicht aber mit kultureller Weiterentwicklung.

Welche Bedeutung haben die Bewegungen?

Fishers Konzepten und Theorien entsprechend ist „It’s all forgotten now“ ein düsteres Stück. Die PerformerInnen sind schwarz gekleidet und auch die Bühne besteht aus einem schwarzen, randlosen Tanzboden. Die Performance ist multimedial und umfasst Musik, Videoaufnahmen, gesprochenes Wort und natürlich Tanz. Die einzelnen Teile erzeugen gemeinsam Stimmungsbilder, die die kapitalistische Realität unserer Tage kritisieren.
Allein vom Tanz hätte ich aber keine Kritik ableiten können. Ich finde es sehr schwierig, die Bewegungen, die mir von Xenia beschrieben werden, mit dem in Einklang zu bringen, was ich in der Einleitung über Mark Fisher gehört habe. Dass sich die TänzerInnen mal stampfend, mal mit den Armen rudernd, dann wieder mit pumpenden, synchronen und asynchronen Bewegungen und schließlich schlangenhaft bewegen, kann ich mir zwar vorstellen. Welche Bedeutungen diese Bewegungen aber für den Kontext des Stückes haben, ist mir nicht klar. Hier sehe ich eine Begrenzung der Audiodeskription. Ein Stück, in dem die Audiodeskription nicht von vornherein mitgedacht ist, muss zwangsläufig zu einem gewissen Grad unverständlich sein. Bei Theaterstücken, die viel Text beinhalten, fällt das dennoch weniger auf als bei einer Performance wie „It’s all forgotten now“, die großteils auf abstrakten Bewegungen beruht.

Auf der Suche nach dem übergeordneten Sinn

Es genügt in diesem Fall nicht, die Bewegung an sich zu beschreiben. Jeder kann sich wohl etwas unter „rudernden Armen“ und „schlangenhaften Bewegungen“ vorstellen. Das Bild der einzelnen TänzerInnen ist da. Was mir fehlt, ist der Zusammenhang zum Stück. Ich weiß nicht, welche Stimmung erzeugt und welche Emotionen hervorgerufen werden sollen. So bin ich immer auf der Suche nach dem übergeordneten Sinn.

Teile der Performance bleiben im Dunkeln

Anstatt mich hundertprozentig auf den Tanz einzulassen, versuche ich, den Kontext in den anderen Teilen des Stückes zu finden – in den Liedtexten, Gedichten und Reden. Hier taucht allerdings eine weitere Problematik auf: Die Texte sind auf Englisch und Französisch eingesprochen und zwar in einer teils poetischen, teils wissenschaftlichen Sprache, die von Xenia leider nicht übersetzt wird. Jeder Text wird vorher kurz zusammengefasst. Und so hört sich das an: „Sie spricht einen Liedtext, der in poetischer Sprache von einer immer komplexer werdenden Realität erzählt.“ Die Beschreibung ist hier ebenso hermetisch wie der darauffolgende Text. Ich kann verstehen, dass man die Stimmung des Textes nicht mit einer Übersetzung zerstören will. Keine Übersetzung bedeutet jedoch, dass große Teile der Performance buchstäblich im Dunkeln bleiben. Persönlich wäre ich für eine Simultanübersetzung, insofern die Audiodeskriptorin die wichtigsten Punkte zusammenfasst und nicht nur trocken vorliest, sondern versucht, die Stimmung des Stückes zu treffen.
Alternativ hätten die Texte aber auch in der Einführung übersetzt oder im Vorfeld zur Verfügung gestellt werden können.

Roter Sand rieselt auf die Bühne wie abhandengekommene Zeit

Trotzdem gibt es Teile des Stückes, die ein klares Bild vor meinem inneren Auge erzeugt haben. Besonders der rote Sand, der auf die Bühne rieselt, lässt mich an Mark Fisher und die Auslöschung der Zukunft denken. Der Sand steht meiner Meinung nach für die Zeit, die uns abhandengekommen ist und die rote Farbe für den Tod der Zukunft. Wundervoll finde ich auch Bewegungen wie das Pumpen der Hände vor der Brust – wie ein Herz, das trotz allem am Leben festhält. In einer anderen Szene wiederholen die PerformerInnen die gleichen Bewegungen wie in einer eingefrorenen Videosequenz oder einer hackenden CD. Dieses Bild bleibt mir im Gedächtnis, weil ich es nicht nur beschrieben bekomme, sondern auch in der sich wiederholenden Musik höre.

Tanz ist abstrakt, aber er muss nicht unverständlich sein

„It’s all forgotten now“ als Tanzfilm mit Audiodeskription hat mir zwei Dinge klar gemacht. Zum einen muss die Audiodeskription Bilder und Emotionen entstehen lassen, die über die reine Beschreibung der Bewegungen hinausgehen. Ich sehe ein, dass das leichter gesagt als getan ist, denn Tanz ist abstrakt und lässt sich schwer in Worte fassen. Eine Tastführung ist hier notwendig und könnte selbst bei Livestreams durchgeführt werden, indem man Bewegungen zum Nachahmen beschreibt.
Zum anderen, sollte Audiodeskription bei der Entstehung dieser Stücke mitgedacht werden, um die Schwierigkeit für die AudiodeskriptorIn zu minimieren. Die Verantwortung sollte ebenso bei den ChoreografInnen und PerformerInnen liegen wie bei den AudiodeskriptorInnen. Als die Sophiensäle vor zwei Jahren damit angefangen haben, ChoreografInnen als AudiodeskriptorInnen zu schulen, war der Hintergedanke, eben solche Stücke zugänglicher zu machen und Inklusion von Anfang an mitzudenken. Ich glaube, die Ressourcen wurden in diesem Stück noch nicht vollständig ausgeschöpft. Tanz ist abstrakt, aber er muss nicht unverständlich sein.

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