Sind Streams die Zukunft des Theaters? Diese Frage habe ich bereits mit der blinden Künstlerin Silja Korn, der Audiodeskriptorin Anke Nicolai und der Kinoblindgängerin Barbara Fickert besprochen. Die einheitliche Meinung war, das Theater im Vergleich zum Kino live erlebt werden muss. Bislang gab es Anke Nicolai zufolge kaum Theatervorstellungen mit Audiodeskription, weder im Fernsehen noch als Stream. Ob und was bei dem Streamen eines Theaterstücks verloren geht oder vielleicht sogar gewonnen wird, habe ich mir am 11. April 2020 auf der Webseite der Berliner Schaubühne angeschaut.
Dort wurde das Stück „Bella Figura“ von Yasmina Reza als Stream zwischen 18:30 und 00:00 Uhr gezeigt. In dem Stück geht es um zwei Paare – Boris und Andrea und Eric und Fracoise – sowie Erics Mutter Yvonne. Der Unternehmer Boris hat eine Affäre mit der pharmazie-Assistentin Andrea und will sie in ein schickes Restaurant ausführen. Dort treffen sie auf Eric und Françoise, eine Freundin von Boris‘ Ehefrau, die mit Erics dementer Mutter Yvonne ihren Geburtstag feiern wollen. Die Spannung zwischen den fünf Personen steigt, als Françoise Andrea auf ihre Affäre anspricht. „Bella Figura“ ist ein humorvolles, dramatisches, wenn auch an manchen Stellen etwas langatmiges Stück, das in seiner Inszenierung und Audiodeskription eher an einen Film als ein Theaterstück erinnert.
Bella Figura: „Nehmen Sie das hier! Das ist viel schärfer.“
Besonders die Frauenfiguren in „Bella Figura“ haben mir gut gefallen. Da war die unberechenbare Andrea, die unentwegt raucht, Pillen einwirft und Dinge sagt wie: „Wenn ein Mann vor die Hunde geht, dann sollte er das in aller Stille tun.“ Oder die direkte Art von Françoise, die immer ausspricht, was sie von den anderen hält. Bei Weitem am besten war die verwirrte Yvonne, die unentwegt nach ihrer Handtasche sucht, Andrea mit Fragen über ihre Medikamente bombardiert und immer wieder kleine Spitzen gegen ihre Schwiegertochter fallen lässt.
Boris, der kurz vor dem Bankrott steht und weinerlich über seine Schulden jammert und Eric, der versucht, alles schön zu reden, um ja keinen Konflikt aufkommen zu lassen, verblassen vor den starken Frauenfiguren. An Witz mangelt es dem Stück nicht. Wenn Andrea Boris mit einem Fischmesser attackieren will und Yvonne ihr stattdessen ein anderes reicht mit dem Kommentar, „Nehmen Sie das hier. Das ist viel schärfer“, lacht der ganze Saal. Leider können die gelegentlichen Slapstick-Einlagen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Dialoge sich gnadenlos hinziehen. Viermal versuchen Boris und Andrea das Restaurant zu verlassen und bleiben doch in der unangenehmen Situation. Zu Beginn streiten sich Boris und Andrea. Als sie beschließen, nach Hause zu gehen, fährt Boris Yvonne fast mit seinem Auto um. Als Wiedergutmachung lädt Eric Andrea und Boris zum Essen ein. Am Tisch konfrontiert Françoise die beiden mit ihrer Affäre und fordert sie zum Gehen auf. Andrea geht zur Toilette. Boris und Yvonne folgen ihr.
Bevor sie gehen können, fällt Yvonne ihr Notizbuch ins Klo und Andrea muss es wieder herausfischen. Dann ruft Andrea sich ein Taxi. Boris bestellt es ab, weil er sie nach Hause fahren will. Aber sie will nicht mit ihm fahren und so sind sie immer noch da, als die Geburtstagsgesellschaft endlich abreist. Der endlose mit etwas gewalttätiger Erotik geschwängerte Streit zwischen Andrea und Boris hätte meinetwegen um einiges kürzer sein können. Die Wiederholungen haben das Stück unnötig in die Länge gezogen.
Bella Figura mit Audiodeskription
Die Audiodeskription von „Bella Figura“ zeigt deutlich, was der Unterschied zwischen einer Live-Beschreibung und einer Beschreibung für Kino und Fernsehen ist. Da es sich nicht um einen Livestream, sondern eine Vorproduktion handelt, wurde auch die Audiodeskription im Vorfeld erstellt. Nadia Schulz-Berlinghoff hat eine tiefe angenehme Stimme, in der sie das Bühnengeschehen so beschreibt, dass man ihr gut folgen kann. Nur einige Male fragte ich mich, was die eine oder andere Formulierung bedeutet. Zum einen, als Andrea auf der Toilette telefoniert. Nadia sagt hier, sie würde ins Mikrofon sprechen anstatt ins Telefon. Zum anderen, als Yvonne Boris einen Kuss gibt und ich mich gefragt habe, wohin. Es macht einen Unterschied, ob eine ältere Dame einen jungen Mann auf die Wange oder auf den Mund küsst. Es war übrigens Letzteres. Live-Beschreibungen von Theaterstücken offenbaren normalerweise die Gefühle der Audiodeskriptorin, während des Sprechens. Das ist bei einer Aufnahme natürlich nicht so und wäre in einem Film sogar störend. Genau diese Reaktion, die mir das Gefühl gibt, ich bin jetzt und hier live dabei, hat mir gefehlt.
Sind Streams die Zukunft des Theaters?
„Bella Figura“ hat mir, zumindest in der ersten Stunde gut gefallen. Die Audiodeskription war verständlich, aber wie im Theater habe ich mich keinesfalls gefühlt. Man hört doch einen starken Unterschied zwischen einer aufgenommenen und einer live gesprochenen Beschreibung. Eine Audiodeskription für einen Livestream zu machen, sehe ich als einzige Alternative, um ein wenig des „Ich bin jetzt hier“-Gefühls des Theaters zurückzuholen. Natürlich würde es Wochen dauern, um eine Audiodeskription für ein Theaterstück zu erstellen und die Frage der Finanzierung schwebt immer über den Köpfen der Theater. Die meisten Livestreams werden zurzeit gratis angeboten. Es wäre zu überlegen, ob es nicht der Mühe wert ist, Geld in Live-Audiodeskriptionen von Theaterstücken zu investieren, besonders, wenn die Theater weitere Monate geschlossen bleiben.
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