Man sollte meinen, dass es in einer Oper hauptsächlich um Musik, also um das Hören geht. So einfach ist das allerdings nicht. Kostüme, Bühnenbild, die Übertitelung und vor allem die Körpersprache der SängerInnen vervollständigen das Opernerlebnis. All das sind visuelle Eindrücke, die für blinde und sehbehinderte ZuschauerInnen übersetzt werden müssen. Was wäre aber, wenn man eine Oper auch als Sehender nur hört? Im vierten Theaterclub haben wir mit Lars Gebhardt (Dramaturg der Deutschen Oper Berlin) über Audiodeskription an der Oper gesprochen. Im Folgenden könnt ihr euch einen Ausschnitt aus diesem Gespräch durchlesen:
Lavinia: Was sind die größten Unterschiede zwischen dieser Inszenierung von „Jenufa“ mit Audiodeskription und anderen, die du bis jetzt gesehen hast?
Lars: Wir wollten erst „Die Zauberflöte“ machen und dann ist es zu „Jenufa“ gekommen, weil das in der Corona-Zeit eine der Inszenierungen ist, die wir aufgezeichnet haben. Ich war auch skeptisch, weil es ein Stück ist, was sehr dialogreich ist und in dem viel passiert. Die Inszenierung von Christoph Leu ist sehr psychologisch, sehr genau auf die Blicke und Personen konzentriert. Ich fand es als Sehender wirklich toll, wie mir der Blick nochmal anders gelenkt wurde: Auf Kleinigkeiten in den Personen, auf die Beschreibung der Darsteller, der Figuren, auch durchaus die Interpretation, die natürlich in einer Audiodeskription drin ist.
Lavinia: In der Oper passiert unglaublich viel, da wird immer gesungen, da wird immer irgendwas gespielt, es gibt immer Musik im Hintergrund. Ist es für dich schwierig gewesen, mitzukommen, wenn noch die Audiodeskription darüber spricht?
Lars: Ich glaube, dadurch, dass ich die Inszenierung und das Stück ganz gut kenne, bin ich gut mitgekommen. Wenn man die Oper gar nicht kennt und wie die Jungfrau zum Kinde kommt, ist gerade dieses Stück komplex und manchmal zu viel, weil die Musik oft sehr aufgeregt ist. Es ist die fremde Sprache. Es wird selten etwas wiederholt. Es ist immer etwas Neues. Es passiert relativ viel auf der Bühne, es gibt relativ viel Text. Dann kann das schon, ein bisschen überwältigend sein. Wir spielen das Stück normalerweise mit zwei Pausen, nach jedem Akt ist eine Pause und die braucht man, weil es einen emotional doch ziemlich mitreißt.
Lavinia: Was müsste passieren, dass man so eine Version der Oper mit Audiodeskription für Sehende generell anbieten könnte?
Lars: Es ist wirklich ein großer Aufwand. Aber ich finde, dass man bald mit einzelnen Produktionen anfangen sollte und dann sagt, man bietet Audiodeskription an, nicht nur für Sehbehinderte und Blinde, sondern auch für sehendes Publikum, damit sie auch die Chance haben, ausgewählte Vorstellungen gleichzeitig zu sehen und zu hören. Wir haben ein riesiges Repertoire – pro Spielzeit dreißig verschiedene Opern, jeden Abend etwas anderes. Dann müsste man gucken, wie man das immer weiter erweitern kann und das Personal der Oper schult, um als Deskribierende zur Seite zu stehen, um das eigene Know-how mit einbringen zu können.
Lavinia: Glaubst du, euer Opernpublikum würde das gut aufnehmen?
Lars: Das Opernpublikum gibt es nicht. Es ist extrem divers, extrem durchmischt. Es ist ein Angebot, die Audiodeskription mitzugeben. Man kann das als Sehender auch machen. Was glaube ich nicht gehen wird, ist, dass man die Oper komplett spielt und live jemand in den Raum laut spricht. Es wird über Kopfhörer funktionieren und so hat man immer die Option zu sagen: ja oder nein.
„Jenufa“ ist ein erster schwerer Testballon, weil viel Text da ist, viel mehr als zum Beispiel bei einer Verdi-Oper, wo es eine Arie gibt und fünf Minuten das Gleiche gesungen wird. Die Emotion bleibt relativ gleich und man kann mehr auf die Musik hören. Hier war es oft sehr dicht, aber dadurch ist das Erlebnis für die Nicht-Sehenden und Sehbehinderten sehr ähnlich wie das der Sehenden. Für die Sehenden sind es auch sehr viele Informationen, was auf der Bühne passiert, was an Text kommt, Transferleistungen. Das ist eine Oper, die für alle, egal welche Sinne man nutzt oder nutzen kann, extrem herausfordernd ist.
Lavinia: Was ist der Nachteil einer offenen Audiodeskription – eine Audiodeskription, die für alle hörbar in den Theatersaal gesprochen wird?
Lars: Offene Audiodeskription ist in dem Sinne in der Oper nicht möglich, weil Sänger laut in den Raum schreien, was gerade passiert. Da ist man in der zeitgenössischen Form des Musiktheaters. In zeitgenössischer Musik geht es weniger ums Libretto, um den Text, sondern sehr oft um das Hören, um Zustände, um das „Was macht die Musik mit mir?“ Da ist die Oper in Bezug auf hörbehinderte Menschen schon ein bisschen weiter, weil es z.B. den Komponisten Helmut Oehring gibt, der Barrierefreiheit in seine Komposition mit einbezogen hat. Er hat Opern geschrieben, mit einem in die Oper integrierten Übersetzer. Das kann ich mir für Blinde und Sehbehinderte genauso vorstellen.
Lavinia: Dass Audiodeskription mitgedacht wird, habe ich einmal in Jess Curtis‘ „(in)Visible“ erlebt. Wie wäre das bei der Oper?
Lars: Es gab z.B. vor einigen Jahren eine Oper, die in Darmstadt uraufgeführt wurde: „Koma“ von Georg Friedrich Haas. Sie spielt zur Hälfte im Dunkeln. Es geht um eine Koma-Patientin und ihr Erleben dieses Zwischenzustandes. Es wurde heller und dann wieder komplett dunkel, sodass auch die sehenden Zuschauer auf ihr Gehör zurückgeworfen waren. Es gab keine Übertitelung, sondern wirklich nur noch das Hörerlebnis. Die Audiodeskription mitzudenken, ist noch ein Schritt mehr, aber wenn man das von Anfang an mitdenkt, ist das eine Möglichkeit.
Das ausführliche Gespräch mit dem Dramaturgen Lars Gebhardt und der Audiodeskriptorin Joyce Ferse könnt ihr euch auf unserem Podcast-Kanal anhören.
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