Die Zahl an Online-Streams steigt täglich. Fast panisch stürzen sich Kulturinstitutionen in die digitale Bereitstellung ihrer Angebote. Museen stellen Rundgänge durch Ausstellungen ins Netz, Kinos machen Filme zugänglich, Konzerthäuser veranstalten Wohnzimmerkonzerte, Clubs legen in leeren Räumen auf und Theater laden ein Stück nach dem anderen hoch. Aber was ist davon barrierefrei zugänglich? Nicht viel. In dieser Woche schaue ich mir einen Stream der Oper „Fidelio“ von Ludwig van Beethoven an. Es geht mir darum, zu überprüfen, wie wichtig Audiodeskription bei Livestreams ist.
Die Oper wurde am 19. Februar in der JVA Tegel aufgeführt und zwar in Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern und dem Gefangenen-Ensemble „aufBruch“der JVA Tegel. Alle Rollen werden von männlichen Gefangenen übernommen.
Das Stück beschäftigt sich mit dem Thema Freiheit und welchen Einfluss die Gefangenschaft eines Menschen auf seine Lieben, die Gefängniswärter und den Gefangenen an sich hat. Leonores Mann Florestan wird von seinem Feind Don Pizarro aus Rache ins Gefängnis geworfen. Sie will ihn retten und verkleidet sich dafür als Mann. Unter dem Namen Fidelio wird sie vom Kerkermeister Rocco angestellt und bald schon als würdiger Bräutigam für seine Tochter Marcelline in die Familie aufgenommen. Im Verlaufe des Stücks versucht Leonore alles, um ihren Mann zu finden und zu retten. Als Don Pizarro erfährt, dass bald schon sein Vorgesetzter das Gefängnis besuchen wird, will er Florestan umbringen lassen. Leonore geht dazwischen. Diese Inszenierung von „Fidelio“ überzeugt mich gerade wegen der authentischen Atmosphäre der JVA, wenn auch aufgrund mangelnder Beschreibung einiges von der Atmosphäre verloren geht.
Livestream von Fidelio in der JVA Tegel
Anfangs erinnert mich die Oper an ein Schultheaterstück. Die Aufnahmequalität lässt zu wünschen übrig. Die Performance, vor allem von Rocco, klingt hölzern und auswendig gelernt. Einige Sänger sind fantastisch wie Don Pizarro. Andere treffen kaum den richtigen Ton.
Eindrucksvoll bleibt mir das Ende in Erinnerung. Als Leonore Florestan erzählt, was sie alles auf sich genommen hat, um ihn zu finden und er nur desinteressiert „Ach ja?“ sagt, unterbrechen die Schauspieler die Szene. Sie wenden sich dem Publikum zu und reden nun über die Schwierigkeit, eine Gefängnisbeziehung aufrechtzuerhalten. Dabei thematisieren sie besonders die Rolle der Frau, die nicht nur mit dem Verbrechen ihres Mannes oder Freundes sowie seiner Abwesenheit leben, sondern auch auf seine Forderungen nach häufigeren Besuchen eingehen und womöglich seine Kinder alleine erziehen muss. Die Schauspieler fordern das Verständnis und die Rücksichtnahme von Gefängnisinsassen für die Herausforderungen ihrer Lieben, die oft in einer ebenso schwierigen Situation sind wie sie selbst.
Was bleibt ohne Audiodeskription?
Die Oper beginnt mit einem langen Musikstück. Ich befürchte schon, den falschen Stream erwischt zu haben, da es sich für mich eher nach einem Konzert als nach einer Oper anhört. Dann aber beginnen zwei der ausnehmend männlichen Schauspieler zu rappen. Etwas klischeehaft schießt mir der Gedanke an „Gangsterrapper“ durch den Kopf. Danach tritt ein Schauspieler vor und bittet die ZuschauerInnen, ihm zu folgen. Man hört, wie das Publikum den Raum wechselt, was im Verlauf der Oper ein paar mal geschieht.
Die Stimmen der Schauspieler kann ich zunächst kaum auseinanderhalten. Selbst im späteren Stückverlauf fällt es mir schwer, den Überblick über die verschiedenen Charaktere zu behalten. Noch verwirrter bin ich, als das Stück von seiner Geschichte abweicht, die Schauspieler in andere Rollen schlüpfen und plötzlich die Exekution von französischen, kommunistischen und jüdischen Geiseln im zweiten Weltkrieg zeigt. Eine Beschreibung wäre an dieser Stelle nützlich.
Ein paar Mal lacht das Publikum, ohne dass ich mir einen Reim darauf machen kann.
Die Verfolgung von Marcelline durch Jaquino, der sie heiraten möchte, entbehrt zwar einer gewissen Komik nicht. Dass sie ebenfalls von einem Mann gespielt wird und wahrscheinlich dementsprechend kostümiert ist, habe ich aber nicht auf Anhieb verstanden.
Vermutlich stellt der Schauspieler die Rolle mit überspitzten weiblichen Klischees dar, was die Lachsalven bei ihren/seinen Auftritten erklären würde. Problemlos mitlachen konnte ich hingegen bei den Kommentaren von Rodrigo, der an seinem französischen Akzent erkennbar ist. Er begrüßt das Publikum zum ersten Akt und arbeitet anscheinend im Gefängnis. Besonders lustig sind seine subtil-spitzfindigen Bemerkungen wie: „Ist doch Mist, wenn man alt wird, ehe man klug geworden ist.“
Das Stück endet. Florestan wird freigelassen, Don Pizarro hingegen eingesperrt. Es ist die Geschichte von Menschen, die teilweise unverschuldet ins Gefängnis geworfen werden und von ihren Lieben, die für sie kämpfen und doch so wenig für sie tun können oder gar Anerkennung für ihre Mühen bekommen. Ein trotz der teils hölzernen Performance eindrucksvolles Stück, nicht zuletzt wegen des Spielorts und der sehr realen Situation der Schauspieler.
Beim nächsten Mal bitte mit Audiodeskription
Da viel gesprochen und gesungen wird, bekomme ich den Großteil des Bühnengeschehens tatsächlich mit und kann mir einiges zusammenreimen. Trotzdem hätte eine Audiodeskription die Oper in meinen Augen fließender und verständlicher gestalten können. Was tragen die Schauspieler, wie sieht die Bühne aus und vor allem, was passiert in den Sprechpausen? Was das angeht, tappe ich tatsächlich im Dunkeln. Ich hoffe, dass es zukünftig mehr Theaterstücke und Opern mit Audiodeskription geben wird. Streams wie „Bella Figura“am 11. April und „Hamlet“ am 2. Mai 2020 haben bereits gezeigt , wie es gehen könnte.
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