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Hamlet geschrien mit Audiodeskription

Posted in Theaterrezension

Innere Konflikte sichtbar nach außen getragen durch Monologe über Rache, Hass, Verzweiflung und den Sinn des Lebens – das ist die „Hamlet“-Inszenierung des Schauspielhauses Bochum unter der Regie von Johan Simons. Eigentlich sollte das Stück als einziges und erstes Theaterstück mit Audiodeskription auf dem Theatertreffen 2020 erscheinen. Doch wie so viele Großveranstaltungen musste auch das Theatertreffen in diesem Jahr in den digitalen Raum verlegt werden. So erscheint auch der „Hamlet“ ab dem 1. Mai dieses Jahres als Livestream in der ZDF-Mediathek mit Nadja Schulz-Berlinghoff als Sprecherin der Audiodeskription. Am 3. Mai halten wir zum ersten Mal den Theaterclub des „Berliner Spielplan Audiodeskription“ ab. Dazu haben wir den Dramaturgen Jeroen Versteele eingeladen. Von ihm erfahren wir etwas mehr über die Einzelheiten und Hintergründe des Stücks.
Der junge Hamlet kommt nach dem Tod seines Vaters, dem dänischen König, nach Hause zurück. Dort muss er feststellen, dass seine Mutter kaum zwei Monate nach dem Tod seines Vaters seinen Onkel Claudius geheiratet hat, der am Tod seines Bruders nicht ganz unschuldig war. Der alte König Hamlet ist jedenfalls keines natürlichen Todes gestorben. Hamlet ist hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, seinen Vater zu rächen und wieder in sein altes Leben einzutauchen. Alles hat sich verändert, nichts ist gleich, weder seine Mutter, die ihm nun fremd erscheint noch seine Freunde, die auf der Seite des verräterischen Onkels stehen. Eine aussichtslose Situation voller Intrigen und innerer Zerrissenheit, die unausweichlich auf eine Katastrophe zusteuert.

Wo ist die Audiodeskription?

Am Samstagmorgen setze ich mich gespannt vor den Computer. Ich habe „Hamlet“ bis dato noch nicht gesehen. Dies soll meine erste Erfahrung mit dem Stück werden. Sie beginnt mit Verwirrung. Der Link „Video mit Audiodeskription“ führt mich zu einem Video. Es beginnt mit einer Zusammenfassung des Stücks. Danach kommt erstmal fünf Minuten lang psychedelische Musik. Bewegt sich etwas auf dem Bildschirm? Ich kann es nicht sehen. Nach fünf Minuten fängt das Stück an – ohne Audiodeskription. Ich pausiere und mache mich auf die Suche. Unter „Spracheinstellungen“ finde ich heraus, dass man Audiodeskription und Gebärdensprache extra anschalten muss. Ich hatte ein separates Video erwartet, wie es das Schauspiel Leipzig für „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am 30. April auf ihrer Webseite hat. Also noch mal von vorne. Jetzt beschreibt die Sprecherin parallel zur psychedelischen Musik, wie die SchauspielerInnen die Bühne betreten. Endlich kann ich mich entspannt zurücklehnen…

Schreien oder nicht schreien?

…oder auch nicht. Sandra Hüller spielt einen sehr verletzlichen Hamlet, der von Gefühlsausbrüchen gezeichnet ist. Sein toter Vater ergreift von ihm Besitz– er schreit. Seine Mutter heiratet Claudius und verrät damit das Andenken an Hamlets Vater und Hamlets Mutterliebe – er schreit. Hamlet will Claudius umbringen und erwischt versehentlich Polonius – alle schreien. Hamlet kämpft gegen Laertes, der den Tod seines Vaters Polonius und seiner Schwester rächen will – sie schreien sich an. Dass sie am Ende der Inszenierung noch ihre Stimmen haben, halte ich für ein Wunder.
Die Szenen sind mitreißend, aber auch schwer verständlich. Dem Dramaturgen Versteele zufolge liegt das an der Vorliebe des Regisseurs Johan Simons, die Grenze zwischen Schauspieler und Figur aufzuheben. Alles verschwimmt und die Dialoge und Monologe klingen eher wie eine Collage von Gefühlen der Einsamkeit, Rache und Todessehnsucht denn nach einem nachvollziehbaren Plot. Soviel Innenleben ist schwierig auszuhalten und die langatmigen Monologe von Hamlet lassen mich gelegentlich wegdriften.
Berührt hat mich einzig die Szene, in der sich Laertes und Hamlet mit dem Degen bekämpfen. Diese Szene ist aus der „Hamletmaschine“ von Heiner Müller abgeleitet. Die beiden Gegner stehen einander gegenüber und rufen wiederholt: „Fang an!“ Dabei werden sie immer lauter, bis sie einander mit kämpferischen Bewegungen anschreien, als würden sie mit einem imaginären Feind ringen. Die verzweifelten Schreie wirken auf mich derart real, dass ich nach einer Minute tatsächlich Tränen in den Augen habe. Für mich war das der bewegendste Augenblick der gesamten Inszenierung.

Audiodeskription: Ist das politisch korrekt?

Auffällig an dieser Inszenierung war zum einen, dass Hamlet von einer Frau gespielt wurde und zum anderen, dass die Besetzung sich aus mehreren unterschiedlichen Kulturen zusammensetzte. Prinz Fortinbras von Norwegen hat ein arabisches, die Totengräberin 2 ein asiatisches Aussehen und Hamlets Mutter Gertrud wird als schwarzafrikanisch beschrieben. Für mich war vor allem der Akzent von Gertrud interessant, so anders als ihr Sohn, verdeutlichte er die Andersheit, mit der sich Hamlet konfrontiert sieht. Er fühlt sich von seiner Mutter verraten. Sie ist ihm fremd und das zeigt sich auch im Aussehen – er/sie blond und klein, Gertrud groß und schwarz.
Während unserer Theaterclub-Matinee kam die Frage auf: wie kann man auf das Aussehen einer Person hinweisen, ohne dass die Audiodeskription politisch inkorrekt wird? Versteele zufolge wurden die Schauspieler nicht in erster Linie wegen ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft besetzt. Er hält also diese Beschreibung für weniger wichtig. Ohne sie hätte mir jedoch ein wichtiger Punkt zur Interpretation des Stückes gefehlt. Gerade das unterschiedliche Aussehen von Hamlet und Gertrud verdeutlicht den Konflikt zwischen den beiden Figuren, eine Tatsache, mit der diese Inszenierung offensichtlich spielt. Wenn dies nicht wichtig ist, könnten die SchauspielerInnen auch uniforme Masken tragen.

Fazit zu Johan Simons‘ „Hamlet“

Ich bin froh, dass ich im Anschluss an das Stück die Gelegenheit hatte, Versteeles Erklärungen zum Hintergrund der Inszenierung im Theaterclub zu lauschen. Zu verstehen, wie er arbeitet und welche Gedanken sie bei dem Aufbau des Stückes bewegt haben, geben mir einen tieferen Einblick in das Stück. Ich bemerke auch, wie viel ich verpasse. Zum Beispiel die betont gerade Haltung der SchauspielerInnen (offenbar eine Spezialität von Johan Simons). Die Audiodeskription kann nicht auf alles eingehen, was auf der Bühne geschieht. Ebenso wenig kann ein Sehender oder eine Sehende alles sehen. Das Theatererlebnis ist nun einmal ein selektives. Der „Hamlet“ befindet sich noch bis zum 30. Juli 2020 in der ZDF-Mediathek. Wer das Stück also verpasst hat, kann das noch nachholen. Der nächste Theaterclub findet im Juni statt. Nähere Informationen versenden wir zeitnah per Newsletter.

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