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„So why – Suchen nach Siegfried“: Was ist ein Held mit Audiodeskription

Posted in Theaterrezension

Was ist ein Held – ein Raucher, Gott, Angela Merkel, jemand, der andere rettet oder jemand, der fliegt? Heute bin ich zum ersten Mal live im „Theater Tikwa“. 2021 habe ich bereits das Stück „Vertigo“ als Online-Version mit Audiodeskription gesehen. „So why – Suchen nach Siegfried“ tut genau das, was der Titel verspricht. Es begibt sich auf eine etwas mehr als einstündige Suche nach Siegfried dem Drachentöter und stellt unter anderem anhand von Wagners „Nibelungen“ die Frage, was ein Held eigentlich ist. Siegfried ist der typische Held, der ein Monster besiegt und dann die holde Maid gewinnt. Er badet im Drachenblut, was ihn bis auf eine kleine Stelle am Rücken, unverwundbar macht. Die Performerinnen und Performer nehmen uns mit auf eine Heldenreise, und wer letztendlich der Held oder die Heldin ist, wird von vielen Seiten beleuchtet. Das Theater Tikwa zeigt am 22. Oktober 2022 das Stück mit Tastführung und Audiodeskription.

Zum Stück

Das Stück wird von sieben Performerinnen und Performern aufgeführt. Sie schlüpfen während der Vorstellung immer wieder in die Rollen der Figuren aus „Die Nibelungen“ – Siegfried, Brünhilde, Hagen, Fafnir, etc. Dann spielen sie wieder sich selbst und reflektieren darüber, was ein richtiger Held ist. Beispielsweise spielen sie die Drachentöterszene, Brünhildes Befreiung aus dem Feuer und Hagen und Siegfried auf der Jagd. Dazwischen sitzen sie am Lagerfeuer oder stehen im hinteren Teil der Bühne und reflektieren.

Eine Einführung in Dauerschleife

Die Audiodeskription wird von Elena Jansen erstellt und eingesprochen. Sie teilt auch die Empfangsgeräte aus und führt durch die Tastführung. Bevor die Tastführung losgeht, spielt das Empfangsgerät die anderthalbminütige Einführung in einer Dauerschleife. Ich bin zunächst begeistert von dieser Idee. Bislang habe ich es nur erlebt, dass Einführungen entweder vorher online verfügbar sind und/oder live vor dem Stück eingesprochen werden. Ersteres hat den Nachteil, dass viele die Einführung nicht vorher finden und hören. Letzteres hat den Nachteil, dass man sich im lauten Theatersaal nicht auf die Einführung konzentrieren kann oder einen Teil der Einführung verpasst, weil man noch nach seinem Sitz suchen muss. Eine kurze Einführung, die bereits auf dem Gerät läuft, hat zum einen den Vorteil, dass man sich selbst aussuchen kann, wann man sie hört und zum anderen als Blinde weiß, dass das Gerät funktioniert. Der Nachteil an dieser Einführung ist, dass sie zu kurz ist. Die Bühne wird beschrieben und einige Performerinnen und Performer werden namentlich genannt. Es fehlt allerdings die Beschreibung der Personen, ihre Namen und ihr Aussehen. Drei bis fünf Minuten darf eine Einführung meiner Meinung nach gerne sein.

Viel zu tasten

Während der Tastführung gibt es viel zu tasten. Die Bühne besteht aus einem grauen Tanzboden, auf dem Boxen in verschiedenen Formen und Größen angeordnet sind. Sie werden während der Performance mal zu einem Baum, mal zu einem Feuer zusammengeschoben. Einige sind sechseckig, andere quadratisch oder rechteckig. Darüber liegt ein meterlanges Tuch mit Pelzbesatz, das als Königsumhang dient. Zu beiden Seiten der Bühne stehen Kleiderständer mit Kostümen und ganz hinten gibt es ein E-Piano sowie ein Mischpult für die Musikerin und den Musiker. Elena warnt vor, dass das Stück durch die Musik sehr laut ist. Ich erwarte das Schlimmste, aber Elenas Stimme kann ich trotzdem gut hören. Einziges Manko der Tastführung ist, dass Elena die Personen im Stück nicht benennt oder beschreibt. Auf meine Nachfrage hin nennt sie die Namen und beschreibt kurz Größe, Form und Haarfarbe.

Nahezu perfekte Audiodeskription

An der Audiodeskription an sich habe ich kaum etwas auszusetzen. Elena ist, trotz lauter Musik, gut verständlich. Es gelingt ihr, in die Sprechlücken zu sprechen. Sie benennt immer wieder die Performerinnen und Performer, was mir bei ca. sieben Personen hilft, den Überblick zu behalten. Besonders zwei Performer haben ähnliche Stimmen, und es gelingt mir bis zum Schluss nicht, sie auseinanderzuhalten. Elena verwendet auch immer wieder bildhafte Sprache wie: „Die Faust ist kämpferisch erhoben.“

Es gibt nur einige wenige Stellen, bei denen ich ein Fragezeichen habe. Als die Performerin Kora einmal singt, lacht das Publikum. Auf meine Nachfrage erklärt mir mein Begleiter, dass sie zusätzlich Grimassen schneidet, die Elena möglicherweise nicht sehen kann und nicht beschreibt. Am Anfang des Stücks kämpfen Siegfried und der Drache. Ich höre ein lautes Pusten und Elena sagt: „Der Drache speiht Feuer.“ Das verwirrt mich, weil offensichtlich nicht wirklich Feuer gespien wird. An dieser Stelle hätte ich mir eine Beschreibung der Bewegung der Performerin gewünscht, statt der Interpretation der Audiodeskriptorin. Als Hagen und Siegfried später im Stück auf die Jagd gehen und ein Reh erlegen, beschreibt Elena: „Sie tragen das imaginäre Reh.“ Diese Beschreibung ist für mich viel klarer, weil ich weiß, dass sie weder ein richtiges Reh noch einen repräsentativen Gegenstand in Händen halten. Alles in allem ist „So why – Suchen nach Siegfried“ ein sehr dankbares Stück für eine Audiodeskription. Es wird viel, aber nicht zu viel gesprochen. Die Musik ist präsent, aber nicht zu laut, und last but not least gibt es  einiges auf der Bühne zu betasten, was eine Bereicherung für jedes Stück mit Audiodeskription ist.

„Mein Siegfried…“

Meine Lieblingszene ist die Lagerfeuerszene. Boxen in unterschiedlichen Formen und Größen sind um ein Lagerfeuer angeordnet. Die Performerinnen und Performer erzählen, wer Siegfried ihrer Meinung nach ist. Einmal ist Siegfried ein hilfsbereiter Kraftprotz, der sich leicht ausnutzen lässt. Ein anderes Mal ist er ein tierlieber Mensch, der den Drachen lieber streicheln, als ihn umbringen würde. Mein Lieblings-Siegfried ist der weibliche. Der weibliche Siegfried macht nichts lieber, als saufen. Sie verliebt sich in eine Frau mit roten Haaren. Im Wald treffen sie auf einen Wolf und leben eine Zeitlang mit ihm zusammen. Auf diese Weise bekomme ich die Möglichkeit, den Helden aus verschiedenen Perspektiven zu erleben. Der Held ist dumm und naiv. Der Held ist kräftig und hilfsbereit. Der Held ist tierlieb. Der Held ist eine betrunkene Frau. Wer ist der Held?

Ist Rapunzel der bessere Siegfried?

Letztendlich behaupten die Performerinnen und Performer, dass Rapunzel eigentlich der bessere Siegfried und damit  der bessere Held wäre. Sie beziehen sich dabei hauptsächlich auf die Disney-Version „Tangled“ aus den 2000er Jahren. Hier ist Rapunzel eine starke Frau, die sich mit einer Bratpfanne zur Wehr zu setzen weiß und keinen Mann braucht, um ihr aus dem Turm zu helfen. „So why“ argumentiert, dass Bratpfannen zum einen die bessere Hydraulik haben gegenüber einem Schwert, dass man damit sein Gegenüber bewusstlos schlagen kann, ohne ihn umzubringen, und dass Rapunzels Bratpfanne mit magischen Runen verstärkt ist. Der perfekte Held ist demnach der oder die, der/die sich selbstständig aus einer schwierigen Situation befreien kann und sich ihren/seinen Gegnern stellt, ohne ihnen bleibende Schäden hinzuzufügen. Am Ende des Stücks habe ich nicht das Gefühl, eine klare Antwort auf die Frage nach dem Helden bekommen zu haben. Mir wurden einige Perspektiven vor Augen geführt. Verschiedene Aspekte des Helden wie seine Berserkerkraft und seine Tötungslust wurden in Frage gestellt. Alternative Heldeneigenschaften wie Tierliebe, Naivität und Hilfsbereitschaft wurden angeboten. Die Suche hat angefangen. Wer oder was der Held ist, müssen die Zuschauerinnen und Zuschauer jedoch selbst beantworten.

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Relevante Links

„Theater Tikwa“
„Vertigo“