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Wie Blinde an der Ticketbestellung scheitern

Posted in Theaterrezension

Wer an Theaterstücken, Konzerten, Filmen oder sonstigen Kulturveranstaltungen teilnehmen möchte, muss zuallererst eines tun: ein Ticket kaufen oder zumindest reservieren. Einfach und bequem kann man von zu Hause aus eine Eintrittskarte kaufen und muss dann nur noch hingehen. Ganz so einfach ist es aber für Screenreader-Nutzer*innen, die sich den Inhalt einer Webseite über eine Sprachausgabe vorlesen lassen, nicht. Zudem scheint jedes Theater, Konzerthaus und Museum ein anderes Ticket-Portal zu verwenden. Das bedeutet, dass ich mir als blinde Zuschauerin all diese Webseiten aneignen muss, um ein Konzert, Theaterstück oder eine Oper zu besuchen. Eine halbe Stunde kann das für eine Unterseite schon dauern. Und wenn ich dann nicht einmal das finde, wonach ich suche, endet die Hoffnung von kultureller Teilhabe in Frustration. Eine Ticket-Webseite, deren Barrierefreiheit zu wünschen übriglässt, stelle ich euch vor: „Reservix“.

Ein überraschender Date-Abend

Es beginnt damit, dass mein Mann und ich uns nach neun Jahren Beziehung mit einem wöchentlichen Date-Abend etwas mehr Mühe geben wollen. Diese Woche bin ich an der Reihe, einen überraschenden Abend zu planen. Ich entscheide mich für ein klassisches Konzert mit dem Argument: „Mal was Neues.“ Außerdem sind Konzerte erfahrungsgemäß akustisch. Ich brauche also meine Augen nicht.

Bei der Ticketbestellung sieht das schon anders aus. Auf Google suche ich nach „Philharmonie Berlin Reservix“, damit ich nicht die oft suboptimalen Suchfunktionen der einzelnen Webseiten benutzen muss.

Seite 1: Welches Konzert?

Seite 1: https://www.reservix.de/berlin/venue/philharmonie-berlin/v3674

Wann immer ich auf eine neue Seite komme, springe ich zuerst von Überschrift zu Überschrift mit der Taste „H“. Zuerst finde ich die Überschrift „Konstantin Wecker – UTOPIA“. Eine Konzertreise“. Wenn ich mit den Pfeiltasten weiter nach unten gehe, finde ich zwei Informationen

„Mi., 10. Nov. 2021
20:00 Uhr“

Hier will ich nur bemängeln, dass „Mi“ und „Nov“ von meinem Screenreader als Abkürzungen vorgelesen werden. Besser wäre es, wenn die Worte ausgeschrieben würden. Noch übersichtlicher wäre es, das Datum mit der Überschrift zu verknüpfen. Das würde mir die Suche nach dem Datum ersparen. Was ich an Ticket-Webseiten ebenfalls schwierig finde, ist, dass die Informationen über mehrere Seiten verteilt sind. Ich bekomme nicht auf einer Seite alle Infos und kann die Tickets bestellen. Ich muss auf einen Link gehen und eine neue Seite öffnen. Die Infos unter dieser Überschrift beschränken sich auf Datum und Uhrzeit. Für die Event-Beschreibung, Ticketbestellung und Anfahrt muss ich auf die nächste Seite gehen. Problematisch ist auch, dass die Überschrift, das Datum und die Uhrzeit zwar verlinkt sind, aber ich kann mir nicht sicher sein, wo ich lande, wenn ich den Link aktiviere. Einen Link, der z.B. „Weitere Informationen zum Event“ heißt, fände ich klarer, wenn ich schon durch mehrere Seiten navigieren muss.

Ich entscheide mich für das „Konstantin Wecker“-Konzert, auch wenn ich noch nicht weiß, worum es geht. Das erfahre ich erst auf der nächsten Seite:

Seite 2: Bin ich hier richtig?

Seite 2: https://www.reservix.de/tickets-konstantin-wecker-utopia-eine-konzertreise-in-berlin-philharmonie-am-10-11-2021/e1631691

Die erste Überschrift lautet „Tickets, Konzertkarten & Eintrittskarten“.  Darunter liest mein Screenreader Folgendes:

„Formular
Suche nach Künstler, Ort, Event
Eingabefeld
Formular Ende
Berlin Hamburg München Köln Stuttgart Dresden Frankfurt am Main Nürnberg Essen Erfurt Flensburg Freiburg im Breisgau
Link weitere Städte“

Ich bin verwirrt, weil ich dachte, auf ein spezifisches Datum gegangen zu sein und jetzt kann ich anscheinend andere Städte auswählen. Ich springe zur nächsten Überschrift mit „H“. Jetzt komme ich zu „Konstantin Wecker – UTOPIA“. Eine Konzertreise. Darunter steht das richtige Datum. Die erste Überschrift kann ich also vergessen. Als Nächstes liest mein Screenreader:

„Mittwoch 10.11.2021 um 20:00 Uhr
Philharmonie
Herbert-von-Karajan-Straße 1
10785 Berlin
Tickets ab 38,35 € *
Veranstalter: Meistersinger Konzerte & Promotion GmbH, Alexanderstraße 9, 10178 Berlin, Deutschland
* Preise inkl. MwSt., zzgl. 2,00 € Servicegebühr und Versandkosten pro Bestellung“

Ich freue mich, dass das Datum diesmal ausgeschrieben wurde. Die Informationen zum Veranstalter interessieren mich allerdings weniger als die Info zur Veranstaltung an sich.  Wenn ich mit dem Screenreader weitergehe komme ich zur nächsten Überschrift:

„Überschrift Ebene zwei
Überschrift Ebene 2 Tickets“

Hier werden mir zwei Überschriften vorgelesen. Wenn ich mit „H“ direkt zur Überschrift springe, wird mir jedoch nur „Überschrift Ebene 2 Tickets“ vorgelesen. Darunter ist ein Schalter „Jetzt Plätze auswählen“. Mir fehlt immer noch die Info zur Veranstaltung. Die kommt aber erst danach unter der Überschrift „Veranstaltungsinfos“. Diese Struktur macht die Seite für mich zwar nicht unnavigierbar. Sie sorgt aber dafür, dass ich mich durch Informationen hindurchwursteln muss, die ich, wenn überhaupt, erst am Ende der Seite erwarte. Anders wäre es vielleicht, wenn ich bereits auf der vorherigen Seite inhaltliche Informationen zur Veranstaltung bekommen hätte.

Auf zu den Tickets!

Jetzt möchte ich die Tickets reservieren. Ich habe schon den Schalter „Jetzt Plätze reservieren“ gefunden. Ich aktiviere ihn. Es passiert absolut nichts. Jedenfalls nichts, was mir angesagt wird. Ich kann nur spekulieren, dass sich entweder gar nichts geöffnet hat oder es ein Pop-Up gibt, das mir nicht angesagt wird. Der Fokus meines Screenreaders liegt jedenfalls immer noch auf dem gleichen Schalter.

Wenn ich mit den Pfeiltasten nach unten gehe, liest mir der Screenreader vor:

„Konstantin Wecker – UTOPIA. Eine Konzertreise
Mi. 10.11.2021 um 20:00 Uhr
Philharmonie Berlin
Platzauswahl schließen Schalter“

Dieser letzte Punkt sagt mir zumindest schon einmal, dass sich etwas geöffnet hat. Weiter geht es mit:

„Großer Saal
Zoom in Schalter
Zoom out Schalter
klickbar
Tickets klickbar
klickbar
Preise klickbar
klickbar
Infos klickbar
Alle Kategorien klickbar
1. Kategorie klickbar
86,65 € klickbar
2. Kategorie 75,80 € klickbar
75,80 € klickbar
3. Kategorie klickbar
63,65 € klickbar
4. Kategorie klickbar
47,60 € klickbar
* Preise inkl. MwSt., zzgl. 2,00 € Servicegebühr und Versandkosten pro Bestellung“

Alles scheint anklickbar zu sein. Ich probiere es also erstmal mit „4. Kategorie klickbar“. Ich lande am Anfang der Seite, springe wieder zur Überschrift „Tickets“ und stelle fest: Nichts hat sich verändert. Diesmal versuche ich es mit „47,60 €“ klickbar. Zur Abwechslung passiert einmal nichts. Jetzt erinnere ich mich, dass es ja auch noch „Ticket“ und „Preise“ weiter oben gibt. Ich versuche es also mit „Tickets“ klickbar. Es hat sich nichts verändert. Der Fokus ist immer noch auf „Tickets“. Aber vielleicht hat sich ja der Inhalt weiter unten verändert:

„Tickets klickbar
klickbar
Preise klickbar
klickbar
Infos klickbar
BITTE WÄHLEN SIE IHRE PLÄTZE AUS.
* Preise inkl. MwSt., zzgl. 2,00 € Servicegebühr und Versandkosten pro Bestellung“

Die Kategorien sind tatsächlich verschwunden und ich soll meine Plätze auswählen. ob ich das kann, ist eine andere Frage. Ich versuche, den Satz „BITTE WÄHLEN SIE IHRE PLÄTZE AUS.“ zu aktivieren, obwohl er mir nur als Text angezeigt wird. Es passiert nichts. Der Text darunter ist auch gleichgeblieben. Hier muss ich nach einer Stunde aufgeben. Ich habe eine Veranstaltung gefunden, kann aber keine Tickets buchen und damit auch nicht meinen Mann mit einem tollen Konzert überraschen. Weiter unten auf der Seite finde ich einen Link (wohlgemerkt keine Nummer, sondern einen Link) zur Ticket-Hotline, wo ich allerdings niemanden erreiche.

Scheitern am letzten Schritt

Reservix ist nicht so unnavigierbar, wie ich es befürchtet hatte: Ein bisschen umstrukturieren und die relevanten Infos bereits auf der Übersichtsseite zur Verfügung stellen – et voilà. Ich muss ein bisschen suchen, komme aber bis zur Ticketbestellung durch. Umso frustrierender ist es, dass ich am letzten Schritt scheitere und mir dann nicht einmal eine gute Alternative wie z.B. eine E-Mail-Adresse oder direkte Telefonnummer angeboten wird. Nicht nur mangelt es in Berlin an barrierefreien Angeboten. Viele barrierearme Angebote kann ich nicht besuchen wegen eines so kleinen Details wie einer schlecht programmierten Seite. Muss ich tatsächlich als Blinde Stunden investieren, weil ich jemanden überraschen möchte und scheitere dann trotzdem? Letztendlich muss ich entweder jemanden darum bitten, die Tickets für mich zu kaufen und ihm oder ihr das Geld überweisen oder meinen Mann fragen, der dann so gar nicht überrascht ist, wenn es am Date-Abend ins Konzert geht. Es scheint eine Kleinigkeit zu sein, aber zu jeder Zeit gegen Barrieren zu stoßen, obwohl man eigentlich nur Kultur erleben wollte, ist die Definition von Exklusion.

 

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