Sonntagmorgen im Pyjama vorm Computer sitzen und Theater hören – das kann man im Theaterclub des Berliner Spielplan Audiodeskription. Zum siebten Mal treffen wir uns im digitalen Raum, um zu lauschen und zu diskutieren. Diesmal geht es um das Stück „Woyzeck Interrupted“ von Mahin Sadri und Amir Resa Koohestani, das im März als Stream mit Audiodeskription gezeigt wurde. Mehr über das Stück und die Audiodeskription könnt ihr in meinem Blogbeitrag „Woyzeck Interrupted“: Gewalt geht uns alle etwas an“ lesen. In diesem Theaterclub war die Dramaturgin und Übersetzerin des Stücks Sima Djabar Zadegan zu Gast.
Lavinia: Woyzeck ist ein Schauspieler und seine Freundin Marie war Hospitantin beim Theater. Sie haben sich getroffen, sind ein Paar geworden, sind zusammengezogen, und jetzt haben wir Lockdown. Und die beiden verstehen sich nicht mehr ganz so gut. Sie sind ein getrenntes Paar, das immer noch zusammenwohnen muss, jedenfalls bis Marie eine eigene Wohnung gefunden hat. Wir fangen an mit den üblichen Streitigkeiten eines Paares. Und tauchen dann ab in die düsteren psychologischen Abgründe, sodass man letztendlich gar nicht sicher ist: Was ist jetzt Wahrheit und was ist Einbildung? Das Stück fängt mit einer tollen Szene an. Marie schneidet Woyzeck die Haare. Deswegen auch meine erste Frage an Sima: Wer hat dir denn in Corona-Zeiten immer die Haare geschnitten?
Sima: Niemand. zum Glück hatte ich keine Passiv-Aggressiv-Auseinandersetzungen zu Hause, um das Schneiden. Und ich musste auch meinem Partner zu Hause nicht die Haare schneiden. Ich glaube, ich hätte mich furchtbar angestellt.
Lavinia: Der Regisseur Amir hat die Idee für dieses Stück bekommen, Als er einen Artikel über Frauenmorde gelesen und ihn mit dem Stück-Fragment „Woyzeck“ von Georg Büchner in Verbindung gebracht hat. Kannst du uns etwas dazu sagen, wie genau das Stück entstanden ist.
Sima: Als wir uns mit Amir Reza Koohestani nach einem Stoff umgesehen haben, kamen wir auch auf das Stück „Woyzeck“ von Georg Büchner, und was Amir sofort an Woyzeck spannend fand war, dass das eigentliche Opfer Marie im ganzen Stück so wenig Redeanteil hat. Dass ihre Geschichte marginal miterzählt wird, obwohl die Klimax-Handlung in ihrer Ermordung besteht. Diese Beobachtung von Amir Reza zu dem Fragment von Georg Büchner hat Fragen bei ihm aufgeworfen. Und dann haben wir einen Artikel in der ZEIT gelesen über Frauenmorde in Deutschland. Man kann eigentlich sagen: An jedem dritten Tag stirbt eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner. Mit diesem Artikel im Hintergrund und der Frage: Warum spricht das Opfer nicht? Das hat Amir Reza dazu verleitet, zu sagen: Dann lass es uns doch einfach mal neu schreiben und mit einer anderen Fokussierung und Balancierung erzählen.
Lavinia: Wie hat Corona die Entwicklung eures Stücks beeinflusst?
Sima: Interessanterweise stand die Wahl des Stückes schon fest, bevor Corona ausgebrochen ist. Es war nicht so: „Oh es ist Corona, was machen wir jetzt? Ah, wir machen jetzt ein Lockdown-Stück.“ Den Ausbruch der Pandemie, mit den großen Umwälzungen für unser aller Alltag und Berufsleben und auch im Theater, wollten wir natürlich auch in das Stück einfließen lassen: Darf man überhaupt proben? Darf man noch spielen, mit wie vielen Schauspieler*innen, etc.? Wir haben gemerkt, dass es sich in der inhaltlichen Setzung eignet, weil wir von häuslicher Gewalt sprechen. In einem Lockdown können wir es nochmal kammerspielartiger machen und nochmal reduzierter und nochmal kondensierter.
Lavinia: Ich habe durch die Audiodeskription mitbekommen, dass es viele Videoprojektionen gibt. Für mich als Blinde ist es irgendwann überfordernd gewesen, mir vorzustellen, wie es aussieht, wenn z.B. die Stadt auf die Wohnung projiziert wird. Welchen Mehrwert haben diese Video-Projektionen gegeben?
Sima: Amir Reza Koohestani ist ein Regisseur, der immer mit Live-Kamera und eingespielten Bildern in den Inszenierungen arbeitet. Die Projektion der Stadt würden wir auch im analogen Abend sehen, was auch bei Sehenden durchaus manchmal Fragezeichen hinterlassen hat: Wie habt ihr das Bühnenbild gebaut? Wir habt ihr denn das gemacht? Den Querschnitt dieser Wohnung, wo man vier verschiedene Kompartimente drin hat, von links nach rechts mit Wohnzimmer, Küche, Badezimmer, Schlafzimmer haben die zwei Videokünstler Benjamin Krieg und Phillip Hohenwarter zusammen mit Guillaume Cailleau (Bildregie) entwickelt. Sie haben diesen Querschnitt genommen für den Stream und haben dann z.B. das ganz äußerste rechte Kompartiment der Wohnung, was das Schlafzimmer ist und das Äußerste linke Kompartiment, was das Wohnzimmer ist, einzeln aufgenommen und im Schnitt dann zusammengefügt. So hatte man einzelne Puppenhaus-Versatzstücke dieser Zimmer. Manchmal sieht man den ganzen Querschnitt, aber plötzlich sieht man nur zwei Teile oder man sieht sie übereinander.
Lavinia: Das klingt für mich, als würden die Projektionen ganz in das Stück passen, wo ich mich oft gefragt habe, was ist Wahrheit und was ist Realität?
Sima: Ganz genau, es hat das aufgegriffen, was schon in der analogen Inszenierung ist, mit diesen verschiedenen Überblendungen: Video, echtes Bild, also die Schauspieler – plötzlich sieht man aber, dass er in die Kamera spricht, und das Kamerabild nochmal auf die Bühne projiziert wird. Da hat man diese Doppelbödigkeit von: Was sehe ich hier? Ich sehe zwei Realitäten gleichzeitig! Manchmal sind sie echt, manchmal wirken sie live und manchmal sind sie nicht live. Und ich glaube, dass eine gewisse Verwirrung entsteht, spricht eher dafür, dass dieses Konzept aufgegangen ist.
Lavinia: Es gibt drei Enden: Das eine, als Woyzeck mit Puppen den Mord an Marie spielt, wo man denkt, vielleicht macht er es gar nicht wirklich. Dann lädt er sie auf eine letzte Zigarette aufs Dach ein und schubst sie hinunter. Dann wird alles nochmal zurückgespult und Marie packt ihre Sachen und geht. Warum habt ihr so viele verschiedene Alternativen angeboten?
Sima: Ich glaube, diese Art von „Wir spielen mit verschiedenen Enden“ ist eine Art Offenlegung, um die Erzählung von Maries Schicksal aus der Prädestinierung herauszuholen: Am Ende stirbt sie halt, so ist es halt. Es war ein Anliegen von Mahin und Amir zu sagen: Wie können wir das Muster auch in der Erzählung von Gewalt an Frauen durchbrechen und wie weit oder wie nah beieinander liegen diese Erzählweisen eigentlich? Diese eine letzte Zigarette wirkt wie eine kleine Handlung, aber viele Zuschauer*innen haben sich später gefragt: „Oh hätten sie nicht diese eine Zigarette zusammen geraucht, hätte sich alles geändert, ja oder nein?“ Und das meine ich gar nicht in dem Sinne eines „Victim-Blamings“: „Ja, wäre sie nicht auf das Angebot eingegangen, eine letzte Zigarette zu rauchen auf dem Dach mit ihrem Exfreund, dann wäre sie nicht gestorben.“ Aber diese Szene war in der Handlungsdramatik für uns ein guter Punkt, um zu sagen: Ab da kann das Geschehen und somit die Erzählung in die eine oder andere Richtung gehen.
Das Interview erscheint demnächst auf unserem Podcast-Kanal. Euer nächster digitaler Theaterclub findet am 6. Juni – am Tag der Sehbehinderung – um 11:00 Uhr statt. Wenn ihr kein Stück mit Audiodeskription mehr verpassen wollt, meldet euch für unseren Newsletter an. Dort erfahrt ihr mehrmals im Monat alles zu neuen Stücken mit Audiodeskription, spannenden Interviews, Hinter-den-Kulissen-Beiträgen, Theaterclubs und vielem mehr. Hier geht’s zum Newsletter.
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