„Wenn du denkst, dass du eine sinnvolle Anpassung vornehmen kannst – tu’s einfach!“
Das bringt David Bellwood (Access Manager am Shakespeare‘s Globe Theatre, London) den Theatermitarbeiter*innen und Schauspieler*innen am Haus bei. Seine Aufgabe besteht normalerweise darin, Fragen zu stellen. Diesmal ist er der Befragte. In einem Interview berichtet er unserem Podcaster Andreas Brüning von der Zugänglichkeit seines Theaters und wie es in Großbritannien um Barrierefreiheit am Theater bestellt ist. Das Interview erscheint im nächsten Podcast-Magazin. Hier ist schon einmal ein Ausschnitt:
„Behinderte sollen laut sein“
David Bellwood: Im Alltag führe ich viele Gespräche über Toiletten, über Rampen und Aufzüge – über sehr praktische Dinge. Ein weiterer Teil meines Tages besteht darin, mit dem Publikum zu sprechen und sicherzustellen, dass wir ihre Anforderungen verstehen. Das sind sehr alltägliche Aktivitäten. Und dann ist ein Teil unserer Arbeit im Globe – und ich würde sagen, das gilt für die meisten Access Manager in Theatern – dass wir uns anschauen, wer kommt, und uns fragen: Wer kommt nicht in unser Theater und welche anderen Barrieren gibt es? Es ist also ein ständiger Prozess der Selbsthinterfragung und in gewisser Weise auch der Selbstzweifel, denn man fragt sich: Warum? Warum gibt es hier keine taubblinden Menschen, warum kommen sie nicht in unser Theater – oder machen sich zumindest bemerkbar? Einige Teile der Gesellschaft sind so viel lauter als andere. Für eine behinderte Person stellt sich oft die Frage nach der Ermüdung und der Menge an Energie, die sie braucht, um sich in der Welt zurechtzufinden. Das ist ganz anders als bei einer nicht-behinderten Person. Und dann soll man sie bitten, der Akteur zu sein, der immer wieder an die Tür klopft und die laute Stimme ist, die nach Veränderung verlangt. Das ist der Moment, in dem wir als Einrichtung die Pflicht haben, uns selbst anzusehen und herauszufinden, wo wir es jemandem schwer oder unmöglich gemacht haben, zu uns zu kommen.
„Es sollte weniger Neins geben“
DB: Man muss unbedingt dem Beispiel der Behindertengemeinschaft folgen, die seit Jahrzehnten, seit ungefähr drei Jahrzehnten, vollständig barrierefreie Produktionen erschafft. Und es ist diese Absage an die Barriere, diese Absage an die Aussage, das sei Zuviel, von der ich denke, dass alle Theater versuchen sollten, dem nachzueifern. Es sollte weniger Neins geben auf unserer Welt. Zumindest in unserem Gewerbe. Ich höre immer: „Nein, nein, nein, wir können das nicht richtig barrierefrei machen.“. Es wurde schon gemacht! Das macht euch nicht originell oder brillant oder sonst irgendwas. Ich denke, es ist sehr bezeichnend für die Position, in die behinderte Menschen in unserer Gesellschaft immer und immer wieder gebracht wurden, dass sie diese unglaublich inklusiven Arbeiten erschaffen, die man dennoch so selten auf unseren nationalen Bühnen sieht. Ich kann nicht für die Gefühle dieser Theatermacher sprechen, aber ich bin frustriert, wenn ich sehe, wie alles inklusiver sein könnte, aber dennoch spürt man die Neins, die Negativität, die Barrieren, die kleinere Gemeinschaften immer wieder isoliert haben. Besonders die Behindertengemeinschaft.
„Es gibt immer einen Kontaktpunkt, an dem es eine Stimme gibt.“
DB: Barrierefreiheit existiert in unserem Daseinsgrund. Der Grund, aus dem Shakespeare’s Globe überhaupt existiert, ist, dass wir Shakespeare allen zugänglich machen wollen. Intern haben wir diesen Ausdruck des „bedingungslosen Willkommens“. Das ist aus dem Stück „Ende gut, alles gut“ und meint, dass alle es verdient haben, hier zu sein, ohne dass das hinterfragt würde. Buchstäblich alle sollen hierherkommen können, ohne dass die anderen Zuschauer sie auf ihre Berechtigung hin befragen.
Ein Access Manager zu sein bedeutet, dass ich direkten Kontakt bekomme zu neuen Regisseur*innen, zu allen Freiberufler*innen, wenn es zum Beispiel um das Szenenbild geht. Es gibt immer einen Kontaktpunkt, an dem es eine Stimme gibt. Und normalerweise ist es meine Stimme, die sagt: Habt ihr darüber mit einem behinderten Menschen gesprochen? Habt ihr das zusammen mit einem sehbehinderten Menschen befragt? Falls es etwas gibt, das diese Befragung braucht.
Alle Schauspieler*innen, die ins Globe kommen, bekommen etwa zwei Stunden Sensibilisierungstraining. Es ist nicht das komplette Programm, sondern eine Einführung in das soziale Modell (von Behinderung), was das Gleichstellungsgesetz ist, was unsere Anforderungen sind und was die Anforderungen anderer Leute sind. Und das ist dazu da, diesen Dialog zu eröffnen, sodass sie, wenn es um die Vorstellungen mit Audiodeskription geht, verstehen, warum wir sie bitten, eine Tastführung zu machen.
Es gibt viele Dinge, die ich tagtäglich tue, um das Globe Theatre hoffentlich barriereärmer zu machen. Aber jedes einzelne Mitglied unserer Belegschaft besitzt die Handlungsmacht, Anpassungen vorzunehmen. Wenn also jemand, der an der Kasse arbeitet, ein Ticket verkauft, so wissen hoffentlich alle an der Kasse, dass sie die Macht haben, auf die Wünsche des Zuschauers einzugehen und diese Anpassungen vorzunehmen. Und sie tun das auch, sie tun das tagtäglich, und es geht darum, ihnen klarzumachen, dass das Barrierefreiheit ist. Wenn man einer schwangeren Frau ein Kissen besorgt – das ist Barrierefreiheit. Wenn man dafür sorgt, dass jemandem nicht die Sonne in die Augen scheint – das ist Barrierefreiheit. Alles, was wir sagen wollen, ist: Wenn du denkst, dass du eine sinnvolle Anpassung vornehmen kannst – tu’s einfach! Das ist deine Gabe – tu es!
„Nein, nein, nein, das ist keine Sonderbehandlung.“
DB: Die Tastführung ist eine Tour durch das Bühnenbild mittels Berührungen, und um das Ensemble kennenzulernen. Was ich interessant finde, ist, dass es für den außenstehenden Betrachter so aussieht, als seien die Tastführungen ein Akt der Nächstenliebe: „Oh, diese Leute bekommen eine besondere Behandlung!“ Ich sage: „Nein, nein, nein, das ist keine Sonderbehandlung. Wir geben ihnen Informationen, die sich einem sehenden Publikum sofort erschließen, wenn sich der Vorhang hebt.“
Wenn man sehr stark vom Sehen abhängig ist und die Bedeutung des Bühnenbildners nicht versteht, hat man einen wichtigen Teil des Theaters verpasst. Diese Intimität führt dann zu der Frage: Wieviel können wir verlangen? Ein sehender, nicht-behinderter Zuschauer, der im Publikum sitzt, kann das Bühnenbild nicht befragen, kann dem Bühnenbild keine Fragen stellen. Und er kann über die Requisiten nicht in der gleichen Weise sprechen, wie es das sehbehinderte Publikum tut. Und da gibt es ein wirklich wichtiges Beispiel. In „Hamlet“, den ich bereits erwähnt habe, wurde die Rolle des Hamlet von unserer künstlerischen Leiterin Michelle Terry gespielt. Und Hamlets Schwert, hatte für Michelle eine in das Metall eingearbeitete Muschel. Haptisch war es also muschelförmig. Aber mündlich klang es nach Muschel, shell, Michelle – das ist die Assoziation. Und wie sichtbar war das für jeden Zuschauer? Und wer hätte diese Assoziation hergestellt? Aber ein Zuschauer fragte: „Warum ist da eine Muschel auf dem Schwert?“ Und der Inspizient erklärte: Deswegen ist eine Muschel auf dem Schwert. Und plötzlich ist da dieser laserartige Einblick in einen Aspekt, nur einen winzigen Aspekt des Stücks. Aber dann saß man im Publikum und der Schwertkampf fand statt. Die Leute, die bei der Tastführung waren, haben nun ein anderes, aber reiches Erlebnis bei diesem Schwertkampf.
Die Tastführungen sind für ein vollständiges Audiodeskriptions-Erlebnis unerlässlich. Aber sie sind kein gleichwertiger Zugang. Sie geben nicht notwendigerweise die gleichen Informationen, das Sehen geben würde. Aber sie geben Informationen. Ja. Ich liebe sie. Sie sind einfach fantastisch.
Das Interview wurde ursprünglich auf Englisch geführt. Für die Übersetzung war Eva-Katherina Jost zuständig. Ein akustischer Ausschnitt wird im nächsten Podcast-Magazin von Andreas Brüning zu hören sein.
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