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Sind behinderte Menschen Monster oder Barbies?

Posted in Allgemein, and Theaterrezension

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In Sachen Audiodeskription drücken die Sophiensäle gerade auf die Tube. Wieder einmal statten sie eine Live-Performance über ZOOM mit einer Beschreibung aus. Diesmal sehen wir die Lecture-Performance „Dis_Lecture“, die von Emilou Rößling live eingesprochen wird. Und das Ganze auch noch mit einer Audiodeskription in zwei Sprachen. Zwei Performer halten jeweils eine Vorlesung, in denen sie sich mit Behinderung auseinandersetzen.

Die erste Performance ist „Flucht auf den Model-Planeten“, die zweite „On something very special“. Emilou spricht die erste Performance mit deutscher Sprache und die zweite auf Englisch ein.

Ich kann über den Chat direkt Feedback geben

Der Nachteil und gleichzeitig der Vorteil von ZOOM zeigt sich hier für mich ganz deutlich. Vorteilhaft ist, dass ZOOM eine Live-Audiodeskription möglich macht, und das ist in Zeiten von Online-Streams eine wunderbare Abwechslung. Ich kann im Chat mit Emilou schreiben und ihr direkt Feedback geben, auf die sie in den Pausen eingeht. Die Möglichkeit hat man in den meisten Fällen im Theater nicht einmal. Dort kann man höchstens hinterher mit der Audiodeskriptorin sprechen. Gut, es gibt auch nicht immer eine Pause. Deshalb hilft das Feedback meistens sowieso nur im Hinblick auf das nächste Stück.
Bei „Dis_Lecture“ gab es allerdings eine Pause zwischen den beiden Performances, sodass die Audiodeskriptorin Zeit hatte, die Änderungswünsche gleich in der nächsten Halbzeit einzubauen. Der Nachteil an ZOOM ist nämlich, dass der Performer leiser wird, sobald die Audiodeskriptorin spricht. Dadurch bekomme ich einiges von dem, was der Performer sagt, zumindest in der ersten Performance, nicht mit. Eine Live-Performance lässt sich schon im Theater schwierig timen, denn Performances basieren oft auf Improvisation. Redepausen zu erwischen ist eine Herausforderung. Bei ZOOM, wo der Ton womöglich noch verzögert ankommt, ist die Latte noch höher gesetzt.
Weil es aber eine Pause gab, konnte ich das Problem im Chat ansprechen und Emilou im zweiten Teil mehr darauf achten, nicht in die Performance zu sprechen.

Kann Perfektion auch behindernd sein?

In der ersten Performance trägt der Performer Dennis Seidel eine blonde Perücke, ein pinkes Oberteil und einen ebensolchen Rock. Was ich von der Handlung mitbekomme, ist, dass es um Lara Lindström geht, die auf einem Model-Planeten landet, wo es nur Frauen gibt, die alle wie Models aussehen. Dort spannt sie einer im Koma liegenden Frau die Partnerin aus. Als diese erwacht, verliebt sie sich in die Nachbarin. Gespielt werden die einzelnen Figuren durch Barbiepuppen. Generell habe ich durch die flache Geschichte, die einfachen Sätze und die Barbiepuppen das Gefühl, einem zehnjährigen Mädchen beim Spielen zuzusehen. Mit der einzigen Ausnahme, dass das Mädchen ein erwachsener Mann ist, der der Beschreibung zufolge selbst wie eine Barbie aussieht. Ich verstehe die Performance als Kritik an Perfektion, zumal der Performer selbst zu einer Theatergruppe von behinderten PerformerInnen gehört. Die Barbie und Models als Vorzeigebild der perfekten Frau: immer lächelnd, immer dünn, große Brüste und keine Emotionen. Kann eine solche Perfektion auch behindernd sein?

Monster und behinderte Menschen haben vieles gemeinsam

Die zweite Performance geht in eine ganz andere Richtung. Der Performer DALIBOR ŠANDOR blickt auf behinderte Menschen vor dem Hintergrund eines Computerspiels. Ihm zufolge haben Behinderte und die Monster in Computerspielen viel gemeinsam. Beide sind ausgestoßen. Beiden begegnet man mit Abscheu. Beide will man übersehen. Er stellt mit einem Hoodie über dem Kopf ein Monster dar, das sich auf allen vieren bewegt. Irgendwann scheint man nicht mehr zu wissen, wo vorne und wo hinten eigentlich ist. Er vergleicht sich selbst mit Frankensteins Monster, da er eine hohe Stirn hat, sehr groß ist, aber nicht kräftig. Am eindrucksvollsten ist die Übung, die das Publikum einbezieht. Wir sollen uns ein Monster vorstellen bzw. das, wovor wir Angst haben und uns dann in einem Körper mit dieser Angst sehen. Auf diese Weise sollen wir versuchen, diese Angst zu verstehen. Er beschreibt auch eine wahrlich furchtbare Szene, in der nicht-behinderte BesucherInnen von sogenannten Monstern gequält werden. Wir sollen uns den Schmerz vorstellen. Das finde ich etwas grenzüberschreitend, aber durchaus lehrreich. Inzwischen kann nicht die Warnung am Anfang auch gut nachvollziehen. Menschen mit Herzproblemen und Kinder sollten sich das vielleicht tatsächlich nicht ansehen.

Ein wunderbarer Kontrast und ein aufschlussreicher Blick auf Behinderung.

Die Performances zeigen zwei verschiedene Seiten von Behinderung. Während die erste Perfektion als Behinderung unserer Tage versteht, konzentriert sich die zweite auf behinderte Menschen als unverstandene Monster, die vielleicht anders aussehen, aber im Inneren nicht furchterregender sind als jeder andere Mensch auch. Emilou führt mich gut durch den Abend. Ich frage mich aber, warum sie zuerst auf Deutsch und in der zweiten Performance auf Englisch beschreibt. Das Publikum, das nur Englisch versteht, bekommt von der ersten Performance nichts mit und umgekehrt. Hier fände ich es besser, die Audiodeskription nur in einer Sprache zu halten bzw. beide Sprachen anzubieten. Zu wechseln ist offenbar auch eine Herausforderung für Emilou, denn sie braucht ein bisschen, um sich an die neue Sprache zu gewöhnen. Alles in allem hat mir die Lecture-Performance Behinderung aus zwei neuen perspektiven gezeigt: die erste süßlich-kindisch, die zweite teilweise furchterregend. Ein wunderbarer Kontrast und ein aufschlussreicher Blick auf Behinderung.

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