Zeit für Experimente! In den vergangenen Monaten habe ich immer wieder beklagt, wie wenig sich Theater an inklusive Experimente heranwagen. Oft wurden lediglich Aufnahmen alter Theaterstücke hochgeladen. Gab es dann doch einmal Live-Experimente über Plattformen wie ZOOM waren diese oft visuell. Eine Ausnahme waren die Sophiensäle. Mit „No Limit“ haben sie im Juni 2020 eine Live-Performance mit Audiodeskription und Gebärdensprache versucht. Kurz vor Weihnachten erschien dann ein neues Experiment: „Running commentary on Dis Sylphide“ als ZOOM-Webinar mit Audiodeskription. In diesem digitalen Live-Format kommentieren internationale PerformerInnen das Video einer Aufführung von „Dis Sylphide“. von Saša Asentić & Collaborators. In der Performance inszenieren zehn behinderte und nicht-behinderte PerformerInnen drei Werke des 20. Jahrhunderts, darunter „Hexentanz“ (1928) von Mary Wigman, „Kontakthof“ (1978) von Pina Bausch und „Self Unfinished“ (1998) von Xavier Le Roy. Die Audiodeskriptorin der deutschen Fassung ist Emmilou Rößling.
Es war Sonntag
Es beginnt mit Verwirrung. Im Bestfall hätte ich 15 Minuten vor Beginn der Aufführung online sein sollen. Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen: Es ist Sonntag. Es ist Vormittag. Es ist kurz vor Weihnachten.
Ich schalte mich 10 Minuten vorher dazu, als die englischen Vorbemerkungen gerade zu Ende gehen und die Übersetzung ins Deutsche beginnt. Um 11:00 Uhr geht es dann los. Das Webinar bietet vier oder fünf verschiedene Kanäle mit Audiodeskription und Kommentaren in leichter Sprache und verschiedenen Sprachen an. Ich finde nur Deutsch und Englisch. Das erste Video zu „Hexentanz“ spielt und ich suche verzweifelt nach der Audiodeskription. So viele Wahlmöglichkeiten. Nur die richtige ist nicht dabei.
Endlich finde ich, was ich suche
Ich wechsle zum Smartphone. Nicht meine erste Wahl, wenn es um Theaterstücke geht, aber da ich die Audiodeskription hauptsächlich hören möchte, muss es eben reichen. Hier finde ich endlich, was ich suche: „Deutsch Audiodeskription“. Zu diesem Zeitpunkt ist das erste Video schon um und ich habe nichts davon mitbekommen.
Zwischen den drei Videos werden Kommentare auf Englisch mit deutscher Übersetzung eingeblendet. Startet dann das nächste Video muss ich immer wieder zurück zu den Spracheinstellungen gehen und Audiodeskription auswählen. Dabei verliere ich immer die erste Minute der Beschreibung.
Same procedure as last video
In „Kontakthof“ haben sich die Männer und Frauen in zwei Gruppen aufgeteilt und schieben einander vor und zurück. Sie werfen mit Stühlen, bekommen einen Lachanfall, singen „My bonnie is over the ocean“. Am Ende laufen alle von der Bühne und es bleibt nur eine leere Stuhlreihe zurück.
Für „Self Unfinished“ muss ich wieder den Audiodeskriptionskanal auswählen. Inzwischen habe ich mich aber an die Prozedur gewöhnt und verpasse kaum etwas vom Anfang des letzten Videos. Es dreht sich alles um ein unvollständiges, sich ständig veränderndes Wesen: „Dieses Wesen sieht aus wie ein unvollständiges Wesen ohne Kopf.“ Die PerformerInnen auf der Bühne lassen sich geschmeidig von einer Pose in die nächste gleiten. Die Figur, die sie dabei abgeben, ist mal ein langer schwarzbrauner Strich, mal ein Hühnchen ohne Kopf, mal ein Roboter mit abgehackten Bewegungen.
Ein klassischer Fall von Sich-zu-viel-vornehmen
Kaum habe ich mich in den Vorgang eingearbeitet, ist es schon vorbei. Schade, denn gerade die letzte Performance konnte ich mir durch Emilous Beschreibungen gut vorstellen. Ich glaube, das ist ein klassischer Fall von „Sich-Zu-viel-vornehmen“. Eine Aufführung mit Live-Kommentaren auf Deutsch, Englisch und Serbisch mit deutscher Audiodeskription und Simultanübersetzung in Leichte Sprache ist zwar lobenswert, aber ist es auch leicht bedienbar? Ich zumindest habe eine lange Einarbeitungsphase gebraucht und als ich mich endlich zurechtgefunden habe, war alles schon fast vorbei. Verschiedene Kanäle anzubieten, sodass sich jeder seinen Bedarf selbst auswählen kann, halte ich grundsätzlich für eine inklusive Lösung. Die vielen Möglichkeiten führen jedoch schnell zu Verwirrung und bewirken genau das Gegenteil. Hinzu kommt, dass mein Screenreader auch noch darüber spricht und ich zu Zeiten drei Stimmen auf einmal höre. Ähnliches habe ich nur auf Familientreffen erlebt.
Trotzdem ist mein Fazit positiv. Hier ist ein Experiment, das sich ein bisschen Zu viel Mühe geben wollte. Das Resultat war Verwirrung und teilweise Frustration auf meiner Seite. Wenn ich mir aber das ansehe, was schon gut funktioniert hat, muss ich sagen, dass es nicht unmöglich war. Ich konnte die Audiodeskription auswählen und einen Teil der Performance mitverfolgen. Ich konnte den Chat bedienen, um meine Kommentare abzugeben. Letztendlich hat das alles funktioniert und zwar live. Wenn die Bedienung öfter während der Performance wiederholt wird und man nicht ständig den Kanal wechseln muss, wäre diese Performance eine fantastische Alternative zu Streamings von Theaterstücken. Theater und besonders Performances sollten schließlich live sein und die Sophiensäle zeigen eine Experimentierfreude, die hoffentlich ansteckend ist. Die Audio-Einführung zu „Running commentary on Dis Sylphide“ könnt ihr euch auf der Webseite der Sophiensäle anhören.
Mehrmals monatlich halten wir euch über die aktuellen Vorstellungen mit Audiodeskription auf dem Laufenden. Hier geht’s zum Newsletter.