Die Kultur in Deutschland leidet. Das ist keine Neuigkeit. Jedoch lässt sich der Grund für die schwierige Situation vieler KünstlerInnen nicht ausschließlich auf Corona abwälzen, wie mir ein ZOOM-Webinar zum Thema Arbeitskultur in der Tanzszene gezeigt hat.
Am 9. Januar 2021 veranstaltet der Verein „Zeitgenössischer Tanz Berlin“ im Rahmen der dreißigsten Tanztage eine digitale Zukunftswerkstatt in Form eines Panels. In diesem ersten Treffen geht es um Arbeitskultur in der Tanzszene und um die Ausarbeitung von Perspektiven für die zukünftige Zusammenarbeit. Als Panel-Gäste sind die PerformerInnen Angela Alves, Joana Tischkau, Frosina Dimovska und Dunja Crnjanski eingeladen. Ich bin eher durch Zufall auf diese Veranstaltung gestoßen. Die Sophiensäle haben sie auf ihrer Facebook-Seite als Workshop mit Gebärdensprache und Audiodeskription angekündigt. Zwar gibt es letztendlich keine Audiodeskription, aber um dem Panel zu folgen, ist das auch nicht nötig.
Angst vor einem besser bezahlten Job
Als erstes beschreibt Joana die oft hoffnungslos unterbezahlte Situation von PerformerInnen. Die meisten davon können sich nicht allein durch ihre Kunst ernähren. Zu diesen gehörte auch Joana. So war sie bereits alles von Babysitter, Kellnerin, Jazz-Tanz-, Yoga- und Beatboxing-Lehrerin, content-Managerin, Managerin und Verkaufsassistentin, um nur einige Wege zu nennen, durch die sie ihre Leidenschaft finanziert. Inzwischen kann sie sich ganz auf ihre Kunst konzentrieren, doch im Hintergrund schwingt immer die Angst mit, wieder einen besser bezahlten Job annehmen zu müssen. Ein Zitat der Rapperin Missy Elliott fasst dieses Leben für sie zusammen:
„Girls, Girls, get that cash
If it’s 9 to 5 or shaking your ass
Ain’t no shame, ladies do your thing
Just make sure you ahead of the game“
(Missy Elliott)
Deutsche Übersetzung:
„Mädchen, Mädchen, holt das Geld.
Ob mit regulärem Job oder Hintern schütteln
Keine Schande, Ladies, macht euer Ding
Nur seid immer einen Schritt voraus“
Geprobt wird in Museen
Die beiden slowenischen PerformerInnen Frosina und Dunja schildern ihre Situation und Wünsche in einem Video. Sie sind in einer Ballettschule angestellt. Alle Performances – darunter fallen Organisation, Förderung, Vorbereitung und Auftritt – müssen neben ihrem Brotberuf stattfinden. Das bedeutet, lange Arbeitszeiten. Geprobt wird in Museen, die Frosina zufolge in Slowenien selten besucht werden und deshalb viel Platz bieten. Sie wünschen sich Zeit, um für ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse als KünstlerInnen zu arbeiten. Sie sind unter ständigem Zeitdruck. Für die Zukunft wünschen sie sich mehr Zeit für die Performances und eine gemeinsam geteilte Erfahrung des Verlangsamens. Sich Zeit zu nehmen soll zum Teil der Performances werden.
Ist Inklusion die Verantwortung derer, die sie brauchen?
Die berufliche Situation von PerformerInnen scheint schon herausfordernd genug zu sein. Wie viel schwieriger es mit einer Behinderung ist und teilweise gemacht wird, erzählt Angela. Mit dreißig Jahren, als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger ist, bekommt sie die Diagnose Multiple Sklerose. Sie findet es unmöglich, sich als behinderte Tänzerin, Choreografin und Performerin nicht auch als Behindertenaktivistin stark zu machen. Das Problem ihr zufolge besteht nicht darin, dass keine Zugänge geschaffen werden. Unter anderem durch Projekte wie „Making a difference“ kann sie an der Tanzszene teilhaben. Für sie bleibt aber die Frage, was danach passiert, denn der Wille, irgendwie mithalten zu wollen, bleibt. Die Folge: Überarbeitung, Depression und Schuldgefühle, weil sie nicht aufgeben kann. „I still feel as if I cannot be an equally important part of the dance industry because I cannot force myself. Ich fühle mich immer noch nicht wie ein gleichwertiger Teil der Tanzindustrie, weil ich mich nicht zwingen kann.“
So stünden die Türen zwar offen, aber die Tanzszene biete dennoch keinen wahren Zugang. Angela benötigt spezielle Arbeitszeiten und -räume. All ihre Bedarfe fasst sie in einem „Access Document“ zusammen, das sie den Theatern vorlegt. Doch ihre Bedarfe beißen sich mit denen anderer KünstlerInnen und die Struktur der freien Szene schützt sie nicht davor, ihre Bedarfe zu ignorieren, um mitzuhalten. Letztendlich bedeutet es, dass Angela selbst für Inklusion verantwortlich ist. Strategien des Widerstands zu finden, das Leben einer Künstlerin neuzudefinieren, Arbeitsethiken entgegenzuwirken, die selbstzerstörerisches Verhalten involvieren – all dem muss sie sich neben ihrer performerischen und choreografischen Arbeit zusätzlich widmen. Staatliche Unterstützung bekommt sie nicht, weil sie als behinderte Künstlerin nicht beweisen kann, dass sie über 50 % ihrer Einnahmen aus künstlerischen Quellen bezieht. Ihr Lösungsvorschlag ist eine Kultur der weichen Klagen (soft complaining) zu entwickeln. Das bedeutet für sie, zuzugeben, dass harte Arbeit nicht glücklich macht, dass wir langsam und müde sind, uns gesund fühlen wollen und Zeit mit geliebten Menschen verbringen möchten.
Mehr Nachhaltigkeit in der Kunstszene
Egal ob behindert oder nicht, Angela zufolge haben alle KünstlerInnen Bedarfe, die genannt und erfüllt werden müssen. Joanna fügt hinzu, dass es darauf ankommt, mehr Wert auf Nachhaltigkeit und Solidarität in der Kunstszene zu legen: „Working your ass off isn’t sustainable. Deinen Arsch abzuarbeiten, ist nicht nachhaltiArbeg.“ Fragen der fairen Bezahlung, Work-Life-Balance, Solidarität und nicht zuletzt der Inklusion werden durch Corona verschärft. Sie waren aber bereits davor und sind vor allem währenddessen und danach präsent. Vor allem sind es Themen, die neben der Kunstszene auch in allen anderen Arbeitsfeldern auftauchen und beantwortet werden müssen, um nicht nur für Zugänge, sondern auch für Inklusion zu sorgen.
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