Ein Text, der in die Zeit passt, könnte man sagen: Das ist „Die Pest“ nach dem Roman von Albert Camus unter der Regie von András Dömötör. Das Stück befindet sich bereits vor der Schließung der Theater im Spielplan des Deutschen Theaters. Das Besondere an dieser Inszenierung ist allerdings, dass der Schauspieler Božidar Kocevski eine spezielle Quarantäne-Fassung des Stücks aufgenommen hat, die meiner Meinung nach einen ganz neuen Blick auf unsere aktuelle Situation und dem Umgang mit Abstand und Isolation wirft.
In der algerischen Küstenstadt Oran bricht die Pest aus. Doktor Rieux kämpft unerbittlich gegen die Krankheit. Trotzdem sterben immer mehr Menschen. Während uns Kocevski durch die leere Eingangshalle, Treppenhäuser, Bühnen, Theatersäle und die Bar des Deutschen Theaters führt, lernen wir das Schicksal der Patienten kennen, die Doktor Rieux besuchen. Ein junger Mann, der nur zu Besuch in Oran ist und sich nach seiner Liebsten sehnt, ein Schriftsteller, der nach dem perfekten Satz sucht, ein Neuankömmling, der sich schon vor der Krankheit als verpestet betrachtet. Immer wieder wechselt der Schauspieler in seinem Monolog zwischen der Stimme des Erzählers und den Dialogen zwischen Rieux und seinen Patienten. In seinem Roman „Die Pest“ baut Camus eine Brücke zwischen dem Kampf gegen eine unerbittliche Krankheit und dem Aufbäumen der Résistance gegen die Unterdrückung der Nazis im zweiten Weltkrieg. Durch die Quarantäne-Maßnahmen von COVID-19 bekommt Camus‘ Text durch Kocevski eine neue Bedeutung. Was tun wir in Zeiten der Isolation und vor allem, was tun wir hinterher?
Das Stück kommt mir wie ein Hörspiel vor
Nicht nur lernen wir durch die Performance von Božidar Kocevski viele unterschiedliche Charaktere kennen, die er alle selbst verkörpert. Wir betreten gemeinsam mit ihm ebenfalls unterschiedliche Klangräume. Zuerst sind wir auf der Straße und dem Vorplatz des Theaters, dann in der halligen Eingangshalle, dann im Theatersaal auf der Bühne und im Zuschauerraum, dann wieder im Treppenhaus und in der leeren Bar des Theaters. Jeder Raum klingt etwas anders. In die wenigen Pausen, die der Schauspieler in seinem Vortrag lässt, spricht Nadja Schulz-Berlinghoff die Beschreibung zu seiner Mimik hinein.
Besonders der Gesichtsausdruck des Schauspielers scheint von großer Bedeutung zu sein, wenn man bedenkt, wie oft die Audiodeskription darauf hinweist. Gerade der ist in seinem Monolog leider untergegangen. Obwohl ich es bewundernswert finde, wie viel Text er sich merken und wiedergeben kann, hätte ich mir an dieser Stelle doch etwas mehr Variation zwischen den einzelnen Figuren gewünscht. Sie klingen für mich nahezu gleich.
Wir betreten das Theater und sind in einer leeren Welt
Ich habe das Stück nicht als Bühnenfassung gesehen und kann mir deshalb nicht vorstellen, wie es im Theatersaal wirkt. Der Gang durch das Theater passt aber meiner Meinung nach genau auf die Dynamik des Stücks. Wir betreten das Theater und sind jetzt in einer Art leeren Welt, in der wir uns die Stadt Oran vorstellen können. Ebenso wie ein Raum auf den anderen folgt, schreitet auch die Krankheit gnadenlos voran und wir werden mitgetragen und mit Situationen konfrontiert, die tragisch und teilweise herzzerreißend sind. Das Einzige, das mich aus dieser Dynamik immer wieder herausreißt, sind die wenigen Begegnungen mit den Pförtnern und einem Techniker. Hier verlässt der Schauspieler seine Rolle und ich brauche immer wieder mehrere Minuten, um wieder ins Stück einzutauchen. Meinetwegen hätten diese Begegnungen gerne herausgeschnitten werden können.
Nehmen wir Verantwortung füreinander oder ist uns der Urlaub wichtiger?
Die Pest kursiert für neun Monate in Oran. Frauen, Männer und Kinder sterben und werden in Massengräbern beerdigt, später sogar verbrannt. Aus praktischen Gründen verfügt der Arzt über fünf Särge. Sobald sie gefüllt sind, werden sie zum Friedhof transportiert. Nach neun Monaten verschwindet die Krankheit so plötzlich, wie sie gekommen ist. Sie hinterlässt viele Tote, aber vor allem Freude darüber, dass es vorbei ist. Bald darauf leugnen die StadtbewohnerInnen, jemals das verpestete Volk gewesen zu sein. In diesem Punkt sehe ich eine Parallele zwischen dem Text und unserer momentanen Situation, ebenso wie einen möglichen Kritikpunkt. Tun wir auch so, als wäre nie etwas gewesen? Nach einer zweimonatigen Quarantäne öffnen sich die Grenzen langsam wieder. Läden, Bibliotheken, Museen, Hotels dürfen öffnen. Urlaube sind wieder beschränkt möglich, ebenso Treffen im Freien. Wie gehen wir zukünftig mit Corona und besonders mit den Abstandsregelungen um?
Zum Schluss des Stücks desinfiziert sich Kocevski die Hände, verabschiedet sich vom Pförtner und verlässt das Theater. „Die Pest“ ist ein Stück, das für mich genau auf unsere Situation passt und zum Nachdenken anregt. Ich mag diese Inszenierung besonders gerne, weil sie in und aus dieser Zeit entstanden ist und uns vor eine Wahl stellt: Nehmen wir Verantwortung füreinander oder ist uns der Urlaub wichtiger?
Die wohl verdiente Sommerpause beginnt
Die Theater gehen ab Juli in eine wohl verdiente Sommerpause. Das heißt aber nicht, dass es keine Angebote mit Audiodeskription mehr gibt. Haltet einfach eure Augen und Ohren offen und verfolgt unseren Spielplan oder meldet euch für unseren Newsletter an und erhaltet die neuesten Meldungen zu Theater mit Audiodeskription in Berlin.