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„Kränkungen der Menschheit“ oder ein Spiegel der menschlichen Unsicherheit

Posted in Theaterrezension

Habt ihr im Zoo schon einmal Menschen auf beiden Seiten des Zaunes gesehen? Menschen, die sich wie Tiere aufführen, andere, die krampfhaft versuchen, ihre eigene Menschlichkeit durch hochtrabende Formulierungen zu schützen. Das ist „Kränkungen der Menschheit“ im Hebbel am Ufer (HAU) Berlin. Am 9. Februar geht es um die Kränkungen, die der Mensch laut Freud durch wissenschaftliche Erkenntnisse erlebt. Dazu gehört die Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, Menschen mit Affen verwandt sind und das menschliche Unterbewusstsein sich nicht steuern lässt. Darüber hinaus fügt Anta Helena Recke noch eine rassistische Kränkung hinzu, die aus der Konfrontation von weißen Menschen mit anderen Kulturen und Ethnizitäten entsteht. „Kränkungen der Menschheit“ wird ohne Audiodeskription gezeigt. Stattdessen flüstert mir Imke Baumann die Beschreibung direkt zu.

„Kränkungen der Menschheit“

Das Stück beginnt mit einer Horde Primaten. Die SchauspielerInnen tragen hautfarbene Bikinis und bewegen sich wie Affen auf allen Vieren. Zuerst machen sie nur Radau und erforschen die Bühne. Dort steht als einzige Kulisse ein weißer Käfig mit einem Podest. Nach und nach klettern die Affen hinein und hinaus. Ein Wissenschaftler im weißen Kittel betritt die Bühne und lockt die Affen mit Nüssen und Salat in den Käfig. Es folgen europäisch aussehende MuseumsbesucherInnen, die gerade durch eine Ausstellung geführt werden. Die Affen ziehen sich zurück. Statt ihrer setzen sich die MuseumsbesucherInnen auf das Podest im Käfig und beginnen, über ein imaginäres Bild von Bauern, die auf ein Landschaftsbild schauen, zu philosophieren. Der Käfig wird zur Seite geschoben und eine Reihe farbenfroh gekleideter Frauen in langen Gewändern tritt schwatzend auf die Bühne. Einige sehen asiatisch, andere afrikanisch aus. Dem Käfig schenken sie nur einen kurzen Blick. Nachdem sie mehrmals lauthals redend auf und abgegangen sind, schreiten sie nun gemessenen Schrittes voran. Einige beginnen, den Käfig langsam über die Bühne zu schieben. Zuletzt treten die Affen wieder auf und jagen zwischen den BesucherInnen über die Bühne.

Wer sitzt im Käfig?

Das Stück konfrontiert uns mit der Frage: „Was unterscheidet mich tatsächlich vom Affen?“ Wie die Affen sitzen die weißen MuseumsbesucherInnen in einem Käfig. Das einzige, was sie voneinander unterscheidet, ist ihre Kleidung und ihre Sprache.
Ihr Gespräch beschränkt sich indes auf hohle Worthülsen wie „Die Prämisse ist mir zu dünn“ als Reaktion auf das imaginäre Bauernbild. Wiederholt richtet sich ihr Blick auf das Publikum, sodass ich mich unweigerlich frage, ob wir die SchauspielerInnen auf der Bühne betrachten oder sie uns.
Immer wieder gehen die Lichter kurz an und wieder aus. Dann geht es weiter wie bisher. Zum einen dienen diese kurzen Pausen als Szenenübergänge. Zum anderen wirken sie wie eine Achtsamkeitsübung, bei der man einen Schritt vom Geschehen zurücktritt. Das geschieht oft unabhängig von dem Bühnengeschehen. Zum Beispiel wird es mitten in der Diskussion der europäischen MuseumsbesucherInnen plötzlich für einige Sekunden dunkel und still. Dann gehen die Lichter wieder an und sie setzen ihre Diskussion fort. Der Szenenwechsel verdeutlicht, wie unsicher das menschliche Ego ist, indem es das Banale ihres Gesprächs hervorhebt. Der Mensch ist nicht der Nabel der Welt, er reagiert oft instinktiv oder unbewusst, er versucht seine Angst durch Sprache zu verschleiern und er hat Angst vor dem Fremden, das er nicht versteht. „Kränkungen der Menschheit“ dient an diesem Abend als Ausstellung und Spiegel für unsere eigene Unsicherheit.

Feedback Audiodeskription

Hinterher fragt mich Imke, wie man eine Szene beschreiben könne, in der nichts weiter geschieht, als dass sich farbenfroh gekleidete Frauen langsam über die Bühne bewegen. Normalerweise würde ich mich nach zwei oder drei Minuten fragen, was sonst noch passiert. Imke sagt, dass die Damen schreiten, aber wie schreiten sie? Gehen sie im Kreis? Gibt es ein Muster? Wie wirkt die ganze Szene? Sind die Frauen wild gemischt oder laufen sie wild durcheinander? Wirkt es meditativ nachdenklich oder zielgerichtet? Man kann auch auf die Musik eingehen, wenn es welche gibt und auf sie Bezug nehmen. Natürlich ist es nicht notwendig, dass alles im Einzelnen beschrieben wird. Schließlich kann ich nicht stundenlang konzentriert zuhören. Wichtig ist: Wenn ich mich frage, was passiert, wird nicht genug beschrieben.

Eine persönlich geflüsterte Audiodeskription

Mir jedenfalls hat es gefallen, einmal eine persönlich geflüsterte Audiodeskription zu bekommen. Mich auf die Kommentare meines Mannes zu verlassen, wenn wir einmal Filme ohne Audiodeskription schauen, bedeutet, immer auf Beschreibungen zu warten, Dialoge nicht mitzubekommen und ein etwas angestrengter Abend für uns beide. So sorgt Audiodeskription ganz nebenbei auch für eine harmonische Beziehung.
„Kränkungen der Menschheit“ wird im Mai beim Theatertreffen in Berlin aufgeführt. Es wird in diesem Rahmen auch ein Theaterstück mit Audiodeskription geben. Welches dies sein wird, ist jedoch noch nicht klar. Behaltet also den Spielplan im Auge.

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