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Das barrierefreie Theaterschiff im Kleisthaus

Posted in Theaterrezension

Das barrierefreie Theaterschiff der Traumschiffcrew legte am 12. Dezember 2019 im Berliner Kleisthaus an. Allerdings nur im übertragenen Sinne, denn die Theatergruppe hatte ihre schwimmende Bühne ausnahmsweise zugunsten einer schlichteren Theaterbühne eingetauscht. Dort wurde das Stück „Hinter den Fenstern“ mit Audiodeskription, Dolmetschen in Gebärdensprache sowie Schriftdolmetschung gezeigt. Die Handlung spielt sich im ländlichen Leinewitz ab. Die letzte noch übriggebliebene Ärztin des kleinen Dorfes geht in Rente und hinterlässt der alternden Bevölkerung keinen Nachfolger. Stattdessen soll die Startup-Idee ihres Sohnes das Problem lösen, indem die Landbewohner von nun an über eine App mit ihrem Arzt kommunizieren. Ein Stück, das auf den steigenden Ärztemangel auf dem Land, die Herausforderungen der Digitalisierung für Senioren und die schlechte Internetverbindung in ländlichen Gegenden aufmerksam macht.

Vor Beginn des Stückes diskutieren ExpertInnen über die Herausforderungen, als behinderter Mensch einen geeigneten Facharzt zu finden. Dabei ist unter anderem die Bloggerin und Aktivistin Laura Gehlhaar. Laura sitzt selbst im Rollstuhl und weiß daher um die Probleme, einen Arzt zu finden, der nicht nur über eine barrierefreie Praxis verfügt, sondern auch kompetent, sympathisch und vor allem willens ist, behinderte Menschen in seiner Praxis zu behandeln. Leider existiert nämlich immer noch das Vorurteil, diese Patientengruppe würde mehr Zeit und Arbeit kosten. Der Konsens war einheitlich: Ärzte sollten sich um mehr Barrierefreiheit in ihren Praxen bemühen und auch dazu verpflichtet sein, sich in der Gegenwart und zukünftig an die Vorgaben der Behindertenrechtskonvention bestmöglich zu halten. Obwohl die Gruppe behinderter Menschen so heterogen ist, dass die Einbeziehung aller Bedarfe kaum erreichbar ist, stehe behinderten Menschen ebenso wie allen anderen das Recht zu, ihren Arzt frei wählen zu können und dabei auf Sympathie und Kompetenz Wert legen zu dürfen.

Das barrierefreie Theaterschiff legt ab

Was aber, wenn die betroffenen Menschen auf dem Land leben, wo es kaum bis gar keine Wahlmöglichkeit zwischen Ärzten gibt? Mit dieser Frage beschäftigte sich das Stück „Hinter den Fenstern“. Das barrierefreie Theaterschiff gibt uns einen Einblick in den Alltag einer alternden Dorfgemeinschaft, deren letzte Ärztin in Rente geht und keinen Nachfolger hinterlässt. Besonders tragisch ist das für diejenigen Dorfbewohner, die nicht mobil sind. So ist Hans-Jürgen dement und den ganzen Tag damit beschäftigt, seiner polnischen Pflegekraft auszureißen, die er für einen russischen Spion hält. Währenddessen ist die Seniorin Ilona zwar eine aktive Internetnutzerin, aber ebenso wenig mobil. Raoul ist der Sohn der praktizierenden Ärztin Helga. Er möchte seine Businessidee an die alten Leute verkaufen. Mit einer Ärzte-App, die noch dazu wegen der schlechten Internetverbindung ständig ausfällt, können die meisten jedoch nur wenig anfangen.
Das Stück bestand aus fünf Charakteren, die von drei SchauspielerInnen gespielt werden. Die älteren Herrschaften wurden durch Handpuppen in Menschengröße dargestellt, die jüngeren wurden von den SchauspielerInnen abwechselnd gespielt. Leider war mir das nicht von Anfang an klar. Als die Audiodeskriptorin Anke Nicolai anfing zu sprechen, herrschte noch so viel Lärm im Raum, dass ich kein Wort verstanden habe. Deshalb wunderte es mich, dass sich die Stimmen der Charaktere immer wieder änderten. Eine vorangehende Tastführung wäre sinnvoll gewesen.

Audiodeskription – mehr als reine Beschreibung

Bei dem Bühnenbild verhielt es sich ähnlich. Anke Nicolai beschrieb zwar den Aufbau der Kulissen. Ihre Beschreibung ging jedoch großteils in den Rufen unter, dass noch Empfangsgeräte für die Audiodeskription vorhanden wären. Auch hier könnte man mit einer vorangehenden Tastführung Abhilfe schaffen und außerdem die Empfangsgeräte vor Beginn der Audiodeskription austeilen.
Davon abgesehen konnte ich der Handlung wunderbar folgen und habe sogar die humoristischen Szenen verstanden, was längst nicht in jedem Theaterstück der Fall ist. Die schönste Geste war, als die Ärztin Helga Hans-Jürgen begreiflich zu machen versucht, dass er durch seine Demenz manchmal Menschen sieht, die gar nicht da sind. Die Puppe von Hans-Jürgen blickte dann auf seinen Puppenspieler, der ihm wiederum bestätigend zunickte. Das alles hat Anke Nicolai wunderbar erklärt, sodass auch das blinde und sehbehinderte Publikum an den richtigen Stellen lachen konnte. Ich freute mich, dass es trotzdem eine Art Tastführung nach der Vorstellung gab. Wir bekamen die Gelegenheit, mit den SchauspielerInnen zu sprechen, was ich immer für eine gute Idee halte, um einen Eindruck davon zu gewinnen, was sie sich bei dem Stück gedacht haben. Wir erfuhren, dass sie die Puppen selbst genäht hatten, konnten Ilona und Hans-Jürgen die Hand geben und einmal in Helgas Körper schlüpfen. Auf diese Weise konnte ich mir viel besser vorstellen, wie die Charaktere aussahen als durch die reine Beschreibung.

Ein vielfältiges inklusives Angebot im Kleisthaus

Das Stück und die barrierefreien Elemente waren an diesem Abend vollkommen gratis zu erleben. Tatsächlich bietet das Kleisthaus regelmäßig kostenlose Veranstaltungen mit Audiodeskription und anderen barrierefreien Angeboten an. Ein Besuch lohnt sich. Das barrierefreie Theaterstück legte erstmal wieder ab. Neue Vorstellungen folgen jedoch im nächsten Jahr. Behaltet einfach unseren Spielplan und die Seite des Traumschiff geG im Auge. Das Projektteam des Berliner Spielplan Audiodeskription und ich insbesondere wünschen euch „’nen juten Rutsch“! Bis zum nächsten Jahr!

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