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Interview mit Nathalie Mälzer

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Wer schon einmal in einem Theaterstück mit Audiodeskription gesessen und sich gefragt hat, was ein „abgewinkelter Arm“ oder ein „gehobenes rechtes Bein“ genau bedeuten soll, kommt im zehnten Theaterclub auf seine und ihre Kosten. Am 19. Dezember 2021 spreche ich nämlich mit Nathalie Mälzer, ihres Zeichens Professorin am Institut für Übersetzungswissenschaft und Fachkommunikation an der Universität Hildesheim. Wir sprechen über Audiodeskription als Übersetzung. Im Folgenden könnt ihr einen Ausschnitt aus dem Interview lesen.

Lavinia: Sie kommen aus dem Bereich Übersetzung, wie sind Sie von einer Übersetzerin zur Audiodeskription gekommen?

Nathalie Mälzer: Studiert habe ich eigentlich Komparatistik und Theater- und Filmwissenschaften. Neben der Liebe zum Wort ist auch immer die Liebe zum Bild oder zur Bühne dagewesen. Ich bin Deutsch-Französin und habe schon von meiner Kindheit her immer dolmetschen müssen. Während des Studiums kam das Interesse für unterschiedliche Übersetzungsprozesse hinzu. Ich habe mich beispielsweise dafür interessiert, was passiert, wenn in Literaturverfilmungen gesprochenes Wort in Bilder umgesetzt wird. Von da war es nicht mehr ganz so weit, den Sprung umgekehrt zu machen und zu sehen, wie Bilder in Sprache übersetzt werden. Nachdem ich lange Zeit als Literaturübersetzerin gearbeitet habe, bin ich dann zur Universität zurückgekommen und habe eine Übersetzungswissenschaft entdeckt, die Impulse aus Großbritannien und den Niederlanden aufgegriffen hat, wo seit längerem zu Barrierefreier Kommunikation und zu Audiodeskription  geforscht wird.

Ich habe außerdem Freunde, bei denen vor einigen Jahren ein Erblindungsprozess begann.  Die waren sehr interessiert an Film und Theater. Für mich stellte sich die Frage: Wie kann man die Bilder, die Dinge, die man da sieht, in eine Sprache übertragen, die den ästhetischen Genuss ermöglicht, den man bisher als sehende Person hatte?

Letztendlich habe ich die Audiodeskriptorin Anke Nicolai kennengelernt, als ich mit meiner ehemaligen Chefin Prof. Dr. Annette Sabban in Hildesheim den Studiengang „Medientext und Medienübersetzung – MuM“ eingerichtet habe, bei dem auch zu Audiodeskription gelehrt und geforscht werden sollte.

Lavinia: Gibt es diesen Studiengang noch?

Nathalie Mälzer: Ja, das ist ein Masterstudiengang, der 2012 eingerichtet wurde. Wir wollten etwas Frischeres machen als nur das, was die traditionelle Übersetzungswissenschaft gemacht hat: da hat man noch sehr textlastig gearbeitet und sich weniger den anderen Medien mit Ton und Bild geöffnet.

Uns ging es darum, zu zeigen, dass die Art und Weise, wie man Texte schreibt, sehr stark davon abhängt, in welchem Medium man sich bewegt. Und zu Medientexten zählen wir auch den Bereich Film und Theater.

Lavinia: Wie gehen sie in diesem Studiengang mit Audiodeskription um?

Nathalie Mälzer: Im dritten Semester können Studierende, die sich dafür interessieren, im Bereich der sogenannten Barrierefreien Kommunikation einen Kurs belegen, wo sie das Audiodeskribieren kennenlernen. Wir machen das bisher meist anhand von Filmen oder Fernsehserien. Seit Beginn des Studiengangs haben wir eine Kooperation mit dem NDR, der neben dem BR in diesem Bereich Pionierarbeit geleistet hat. Wir versuchen die Studierenden erstmal an die Fragen heranzuführen: Was ist Beschreiben überhaupt? Welche Schwierigkeiten gibt es? Welche Auswahlkriterien muss ich treffen? Woran kann ich mich orientieren, wenn ich so kurze Lücken habe, in die zwischen zwei Dialogen eine Filmbeschreibung passen muss? Wie kann ich so beschreiben, dass es am Ende auch kohärent ist? Das ist eine der Königsaufgaben bei unserem Studiengang. Wer diesen Studiengang studiert hat, ist noch kein fertiger oder keine fertige FilmbeschreiberIn, sondern hat einen Einblick bekommen. Man braucht sicher noch ein Jahr Übung, um Audiodeskription von Grund auf zu erlernen.

Lavinia: Sie sprechen Deutsch und Französisch und übersetzen auch vom Französischen ins Deutsche. Was sind die Parallelen zwischen der Übersetzung von einer Sprache in die andere und von Bild in Sprache?

Nathalie Mälzer: In beiden Fällen muss ein ausgebildetes Sprachempfinden da sein, die Fähigkeit, die Qualität eines Gesamttextes überprüfen zu können und ein Gefühl für Rhythmus, für Tempo zu entwickeln. Das gilt bei der Audiodeskription noch viel mehr, weil man es häufig mit zeitgebundenen Medien zu tun hat. Bei der Übersetzung eines literarischen Textes finde ich immer schon sprachliche Formulierungen vor und muss diese in eine andere Sprache übertragen. Es mag auf den ersten Blick sehr viel leichter sein, weil da schon etwas ist, an dem ich mich orientieren kann. Allerdings ist das auch ein Trugschluss, weil man beim literarischen Übersetzen nicht wortwörtlich vorgehen kann, das heißt, wenn es eine gute Übersetzung werden soll, die sich nicht mehr als Übersetzung liest und die die Poetik eines Textes einfängt und wiedergibt. Da Sprachen auch von der Gestaltung, den Klangwerten, den Konnotationen her unterschiedlich sind, ist es eine große Herausforderung, von einer Sprache in die andere zu übersetzen.

Beim Übersetzen von visuellen Eindrücken kommen aber andere Schwierigkeiten hinzu. Man hat keine Formulierungen, an denen man sich orientieren kann. Und man bewegt sich in einem schmaleren sprachlichen Raum, weil man meist nicht alle Register ziehen kann. Was eine besondere Herausforderung beim Literaturübersetzen sein kann, ist, dass ich eine bestimmte Art Jargon finden muss, Mündlichkeit übersetzen muss. Bei Audiodeskription bleibt die Beschreibung meistens auf einer neutraleren Sprachebene, die versucht, durch die Syntax Effekte zu erzielen, aber weniger durch eine bestimmte, stark konnotierte Lexik.

Lavinia: Am Wichtigsten scheint es zu sein, die Botschaft dessen, was jemand sagt, in einer Sprache oder in einem Theaterstück irgendwie rüberzubringen. Wie entscheidet man sich, welche visuellen Elemente, welche Bilder gerade am wichtigsten sind?

Nathalie Mälzer: Es ist ein wichtiger Unterschied zum Übersetzen, dass bei einer Audiodeskription von Filmen oder Theaterstücken das Thema Zeit eine Rolle spielt. Es ist nicht möglich eine lange, ausführliche Beschreibung einer Szene, eines Bildes, einer Bewegung zu machen, wenn nur vier Sekunden zur Verfügung stehen, dann wieder jemand etwas sagen wird und ich das nicht übersprechen möchte. Ich möchte, dass man hört, was von einer Figur besprochen wird, damit der Zusammenhang mit der Beschreibung klar wird. Wenn ich weiß, wie viel Zeit mir zur Verfügung steht, kann ich wählen, welche Information am wichtigsten ist.

Da kommen mehrere Dinge zum Tragen: Wie kann ich erstmal die Handlung wiedergeben? Welche Elemente werden nur visuell wiedergegeben und welche werden versprachlicht? Dieses Gefühl dafür, wie die Handlung im Kopf der ZuschauerInnen entsteht und welche Informationen ich brauche, wenn ich das Bild nicht sehen würde, ist die leitende Frage bei der Auswahl.

Aber es sind manchmal nicht nur diese Handlungselemente, die entscheidend sind, um etwas zu begreifen. Es können ganz andere Dinge sein, die man auswählen muss, um zu verstehen, wer gerade spricht oder wer zu wem spricht. Es kann sein, dass die Mimik gerade wichtig ist, weil darüber transportiert wird, warum die Person etwas sagt und wie sie es meint. Es gibt sehr viele zu berücksichtigende Ebenen, zwischen denen ich mich entscheiden muss.  Das ist das sogenannte „Audiodeskriptionsdilemma“. Ich habe nur kurze Zeit und muss auswählen, an welcher Stelle ich welche Informationen unterbringe.

Lavinia: Das klingt, als wäre eine spontane Beschreibung überhaupt nicht möglich, weil man beim ersten Sehen gar nicht weiß, was eigentlich das Wichtige ist.

Nathalie Mälzer: Ich glaube auch, dass so eine Art Audioverdolmetschung von Bildern spontan und live zumindest viele Fallen birgt. Aber auch Dolmetscher bereiten sich natürlich auf ihren Einsatz vor.

Ein Problem ist aber, dass man nicht weiß, wie viel Zeit einem bleibt, um etwas zu sagen, denn im Unterschied zum Dolmetschen spreche ich die Übersetzung nicht parallel zu den Personen ein, die gerade etwas sagen und die von dern ZuhörerInnen gar nicht weiter gehört werden müssen, sondern man spricht in Lücken hinein, die man bestenfalls vom Aufführungsrhythmus her ahnt, wenn man dieses Stück schon ganz oft gehört und gesheen hat. Das Stück muss man quasi auswendig kennen, um zu wissen, wo man etwas sagt. Ich halte es für unmöglich, etwas adhoc zu beschreiben, zumindest dürfte das in vielen Fällen komplett an dem vorbeigehen, was eine gute Audiodeskription ausmacht.

Lavinia: Mir ist aufgefallen, dass es bei der Audiodeskription oft so ist, dass die Sätze, sehr einfach formuliert werden. Ist es eine Richtlinie, dass man Hauptsätze benutzen muss und was könnten z.B. auch kompliziertere Sätze zur Audiodeskription beitragen?

Nathalie Mälzer: Die Audiodeskriptionsrichtlinien wurden in Deutschland von Bernd Benecke und Elmar Dosch in den 2000er Jahren geschrieben. Ganz am Anfang gab es die Empfehlung: pro Satz sollte nicht mehr als eine Information gegeben werden. Ein Satz sollte nicht komplexer sein und mehrere Informationen vermitteln.

Im Bereich der Untertitelung für Menschen mit einer Hörbehinderung ist man vielfach davon ausgegangen, dass diese Menschen, wenn sie gehörlos auf die Welt gekommen sind, größere Schwierigkeiten hatten, die deutsche Schriftsprache zu erlernen, weil sie die lautsprachliche Ebene nicht kennen. Daher sind sie häufig darauf angewiesen, dass die deutsche Schriftsprache, die für sie eine Fremdsprache ist, leichter formuliert sein sollte.

Bei Menschen, die früh erblindet sind oder blind geboren wurden, geht man nicht davon aus, dass es Schwierigkeiten bereitet, einem komplexen Satzbau zu folgen. Die wissenschaftlichen Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen, die blind sind oder eine Sehschädigung haben, sich eher besser auf die Sprache konzentrieren können und in der Lage sind, noch schneller wahrzunehmen als ein sehender Mensch. Somit ist es vielleicht ein Trugschluss gewesen, zu sagen: Wir wollen es einfach halten und empfehlen daher, möglichst wenig komplex zu formulieren.

Ich bin auf jeden Fall der Meinung, dass man abwägen sollte, was angemessen ist, um eine Geschichte gut zu vermitteln. Es kann langweilig werden, wenn man eine monotone Sprache hat, die von der Syntax her immer wieder einfache Sätze verwendet, insbesondere wenn die Bildebene nicht klar ist und bestimmte Ambiguitäten enthält. Visuelle Eindrücke sind in vielerlei Hinsicht nicht einfach zu deuten. Das fängt beim Gesichtsausdruck einer Figur an, wo ich nicht eindeutig sagen kann, ob der auf mich so oder so wirkt. Bevor man einfache klare Aussagen macht, erscheint es mir geboten, dass man komplexere Sätze bildet, die diese Vagheit oder Ambiguität formulieren und mittragen. Ich habe mich vor einiger Zeit mit der Audiodeskription des Films „Yella“ beschäftigt.

Man erfährt erst am Ende des Films, dass die Hauptfigur nur wenige Sekunden vor ihrem Tod etwas geträumt hat. Es gibt aber immer wieder Zeichen, die im Film versteckt sind, die den Zuschauer darauf stoßen, aber eher dezent. Die Bilder verraten den aufmerksamen ZuschauerInnen: Das alles, was wir dir hier zeigen, ist nicht Wirklichkeit, sondern es sind die letzten Fantasie-Bilder der Hauptfigur. Wenn man hier mit einfachen Hauptsätzen arbeitet, funktioniert das nicht mehr. Dann kann ich diese versteckten Zeichen nicht transportieren, sondern ich muss Anspielungen in Nebensätzen oder Adjektiven, in Metaphern verstecken, was vielleicht nicht immer ganz objektiv wirkt, aber auch nicht so auffällig ist, dass ich als ZuschauerIn plötzlich denke: Da kommt der Wink mit dem Zaunpfahl.

Das gesamte Interview erscheint demnächst auf unserem Podcast-Kanal.